Motorradschutzbekleidung

Schon die erste E[1] hat die beteiligten Kreise, vulgo Biker, empört, erlegt sie ihnen doch auf, etwas sollen zu müssen.[2] Was Biker am wenigsten wollen ist die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit – ein Ziel, das auch Koziol anerkennt,[3] der beklagt, dass die Sorgfaltspflichten beider Seiten mit sehr verschiedenem Maß gemessen werden.[4] Inzwischen dreht der OGH die Schraube noch enger: Der Schmerzengeldanspruch sei um 25 % zu kürzen, weil der im Ortsgebiet Verunfallte keine Motorradschutzkleidung getragen hat.[5]

Der OGH sagt, es gehe nicht darum, dem Einzelnen Freiheiten zu nehmen, sondern um die Abwägung der Frage, wie das eingegangene Risiko zu verteilen ist und inwieweit es von demjenigen, der sich für das Eingehen eines erhöhten Verletzungsrisikos entschieden hat, auf seinen Schädiger abgewälzt werden kann.[6] Wenngleich seltsam klingt, etwas auf den Schädiger abzuwälzen, ist das im Grunde richtig, wirft aber etliche Fragen auf. Ich muss meine Gesundheit nicht schützen, um einen Schädiger zu entlasten. Die Rechtsordnung verbietet Selbstgefährdung und Selbstbeschädigung nämlich nicht.[7]

Looschelders (1999) ortete Unsicherheiten über die dogmatischen Grundlagen des Mitverschuldens.[8] Koziol beklagte 2006, während dem Einzelnen immer mehr Sorgfaltspflichten gegenüber Anderen auferlegt werden, würde die Obliegenheit, Sorgfalt gegenüber eigenen Gütern walten zu lassen, zunehmend abgebaut.[9] Inzwischen schlägt das Pendel wohl in die Gegenrichtung aus, Schädiger werden zunehmend entlastet.

Noch schlimmer freilich wären Inkohärenz und Beliebigkeit.[10] Die sucht der OGH zu vermeiden: Mitverschulden des verunfallten Motorradfahrers könne nicht leichtfertig, sondern nur dann bejaht werden, wenn sich ein allgemeines Bewusstsein der beteiligten Kreise gebildet hat, dass ein einsichtiger und vernünftiger Motorradfahrer Motorradschutzkleidung trägt.[11]

Wie genau erfassen wir ein Bewusstsein der beteiligten Kreise?

In Deutschland erkennt man, dass es auf Untergruppen ankommt:[12] So existiert bei Fahrern einer Harley-Davidson kein allgemeines Bewusstsein zum Tragen von Motorradschutzkleidung (Lederhosen mit Protektoren).[13] Man sieht, dass die Ausmittlung des konkret gesollten Schutzniveaus davon abhängt, wie akkurat die Gepflogenheiten der beteiligten Kreise ermittelt werden.

Im Ortsgebiet, insbesondere beim Ampelstart, besteht kein Unterschied zwischen Motorrädern und Motorrollern. Die Gefahr der Verletzung ist beim Roller oder einer Harley gleich hoch wie bei anderen Motorrädern. (Das Verhalten des Fahrers spielt dabei überhaupt keine Rolle, denn wir betrachten ausschließlich den Fall seines unverschuldeten Zuschadenkommens.) Doch mangels ausgeprägten Gruppenbewusstseins sinnt man ihren Fahrern keine Obliegenheit zu, sich zu schützen. Der 7. Rechtsgrundsatz F. Bydlinskis – die Rechtssicherheit im allgemeinen, va. iSv Orientierungssicherheit und Rechtsfrieden[14] – wird arg zerzaust durch das absurde Ergebnis, dass justament diejenigen verkürzt werden, deren Untergruppe sich schützt, während Angehörige der Untergruppe der „Hooligans“ ihren Anspruch behalten dürfen: Dass Rechtstreue nicht belohnt, sondern sanktioniert wird, ist neu. Schwaighofer geht noch weiter und fordert Fahrrad- und Schihelme sogar dann, wenn sich noch kein allgemeines Bewusstsein gebildet hat, eben darum, dass sich eines bilden möge. Das ist als willkürlich und apodiktisch abzulehnen: Zumindest als Abgrenzungskriterium taugt das allgemeine Bewusstsein, von dem man eben nicht sprechen kann, wenn es sich noch nicht gebildet hat. Aber taugt es überhaupt?

Bauern haften für ihre Rinder

Im Fall des Tiroler Bauern, dessen Kuhherde eine Touristin zu Tode getrampelt hatte, wurde erstinstanzlich nicht auf Schadensteilung erkannt, obwohl die verunfallte Tierhalterin – als Hundehalterin Angehörige desselben Verkehrskreises wie der beklagte Rinderhalter – hätte wissen müssen, dass Mutterkühe aggressiv auf Hunde reagieren können.[15] Dass Tiere […] Schaden stiften können, ist […] allgemeines Erfahrungswissen der Menschen.[16] Dennoch ignorieren immer wieder Wanderer mit Hunden die Warnschilder. Vernünftiges und einer Person einleuchtendes Verhalten muss sich nicht zwangsläufig an der Befolgungsquote messen, sondern kann sich aus einer vernünftigen Betrachtungsweise und dem Vergleich mit einer entsprechenden Maßfigur ergeben.[17] Ein fehlendes allgemeines Bewusstsein, oder Unbelehrbarkeit, könnte vorwerfbares (grob fahrlässiges) Fehlverhalten des Geschädigten nicht exkulpieren.

Der sorgfältige Mensch im 21. Jahrhundert

Im Nachhinein ist klar, dass “die telefonische Weitergabe eines TAC-Codes an eine unbekannte Person einen durch Betrug hervorgerufenen Schadenseintritt nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich macht“.[18] Aber ist auch im Vorhinein klar, dass der Anrufer kein Bankmitarbeiter, sondern ein Betrüger ist? Wenn das so wäre, hätte Cybercrime wenig Boden. Auftritt der „maßgerechte Durchschnitts-Onlinebanker“: Die Ausmittlung des konkret einzuhaltenden Sorgfaltsniveaus sei „mit Bedachtnahme auf […] die allgemeinen Lebensgewohnheiten der Zahlungsdienstnutzer zu beurteilen.“ Ihnen müssen wir aber bei der Frage, ob ihr konkretes Verhalten das gewöhnliche Maß an alltäglich vorkommenden, nie ganz vermeidbaren Fahrlässigkeitshandlungen des täglichen Lebens ganz erheblich übersteigt, zugestehen, dass sie sich in unübersichtlichen, von darauf spezialisierten Betrügern herbeigeführten Situationen wiederfinden.

Die Kirche im Dorf

Sollen Fußgänger und Radfahrer deswegen nicht riskieren den Schutzweg bei grün zu überqueren, weil bekannt ist, dass es im toten Winkel eines LKW ohne Abbiegeassistenten immer wieder Tote gibt? Ein vertikales Opfer – Angehöriger anderer Verkehrskreise – wird die Zuschreibung „selber schuld“ schneller einmal zynisch finden als ein horizontales Opfer, das sich demselben Risiko wie der Schädiger ausgesetzt hat (wie zB Autofahrer untereinander).

Quelle: anwalt aktuell, Benedikt Wallner, Juni 2019


[1] 2Ob119/15m.

[2] Nämlich, aus Präventionsgründen dem drohenden Risiko zu begegnen, eintretende Schäden nicht ersetzt zu bekommen, vgl Koziol, Die Mitverantwortung des Geschädigten im Wandel der Zeiten, in FS Hausmaninger, 2006, 139. Auch der Ökonomischen Analyse des Rechts (vgl. Guerra, Essays on the Economic Analysis of Tort Law) geht es um optimale Anreize für gesamtgesellschaftliche Schadensverhütung – eine, aber nicht die einzig denkbare Wertung.

[3] aaO 145.

[4] aaO 147.

[5] 2Ob44/17k.

[6] 2Ob44/17k, 2.3.

[7] BGH 17.06.2014 (VI ZR 281/13) mwN.

[8] Looschelders, Die Mitverantwortlichkeit des Geschädigten im Privatrecht 29.

[9] aaO 148.

[10] Looschelders, 152f, warnt vor einer „billigkeitsorientierten Konkretisierung“ des – dem § 1304 ABGB entsprechenden – § 254 BGB.

[11] So versteht auch Schwaighofer, Rad- und Schihelme, VbR 2018/118, C.2., das Bewusstsein der beteiligten Kreise einschränkend als "Puffer": Wenn keiner macht, was geboten wäre, ist es nicht geboten.

[12] OLG München 19.05.2017, 10 U 4256/16; mwN.

[13] LG Frankfurt 07.06.2018, 2-01 S 118/17.

[14] Fundamentale Rechtsgrundsätze 291ff.

[15] Pressemitteilung LG Innsbruck 1 Jv 924-24/19x, 22.02.2019.

[16] 4Ob2155/96g.

[17] Schwaighofer aaO C.3.c. mwN.

[18] 9Ob48/18a.