Gutachter von Kollegen kritisiert / Er schaute sich nicht alle Befunde an und meinte: „Umgeknickt“

von Ricardo Peyerl und Peter Pisa 

Allein im Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien werden im Jahr an die zehn Mediziner, Kriminologen und andere Experten aus der Liste der beeideten Sachverständigen gestrichen, weil sie nicht (mehr) den Anforderungen entsprechen.

Das könnte auch jenem Buchprüfer blühen, der über der Finanzgebarung der Spendenorganisation „World Vision Österreich“ brütet. Dort sollen Millionen veruntreut worden sein, aber außer einer Vorschuss-Zahlung an den Sachverständigen von mehr als 500.000 Euro ist seit vier Jahren noch nicht viel weiter gegangen.
Und wenn sich ein Gutachter einen schweren Kunstfehler, sagen wir: ein falsches Gutachten, leistet?

ARBEITSUNFALL

Am 24. Jänner 1995 hat bei Verladearbeiten in Wien ein Lkw den linken Fuß des Arbeiters Kemal Ayvaz überrollt und zerquetscht. Der 50-Jährige kann keine Lasten mehr tragen und seine Familie mit der (versteuerten) Unfallrente kaum über Wasser halten.

Seine Klage auf Schadenersatz und Schmerzensgeld von rund 90.000 gegen die Versicherung des unaufmerksamen Lkw-Lenkers wurde abgewiesen, weil die Gerichte dem Gutachten des Unfallchirurgen T. folgten.
T. hatte sich nicht die Mühe gemacht, sämtliche Röntgenbilder und Befunde aus dem Krankenhaus, in dem Ayvaz operiert worden war, zu studieren. Er beliebte, den Unfall zu rekonstruieren und kam zum Ergebnis: Der Fuß sei nicht überrollt worden.

Sondern? Herr Ayvaz müsse wohl „umgeknickt“ sein.

Schon zu dem Zeitpunkt gab es zwei andere Gutachten aus Vorprozessen, die von einer Quetschung ausgingen.
Rechtsanwalt Benedikt Wallner holte aus Deutschland ein viertes Gutachten ein, das an den „geradezu typischen Folgen des Überrollens“ keine, an der „gutachterlichen Sorgfalt“ des Wiener Kollegen jedoch große Zweifel hegt: T. habe es verabsäumt, den Operationsbericht beizuziehen und möglicherweise den Aufnahme- mit dem Entlassungsbefund verwechselt.

Das bekümmerte die Justiz wenig: „Dass sich aus späteren Umständen die Unrichtigkeit des Gutachtens oder die mangelnde fachliche Eignung des Sachverständigen ergeben soll, genügt nicht“ für eine Wiederaufnahme (Oberlandesgericht Wien).

Also blieb Wallner nichts übrig als den (hoffentlich versicherten) Sachverständigen zu klagen, dessen offenbar falsches Gutachten den Zuspruch des Schadenersatzes verhindert hatte. So hat Ayvaz nach acht Jahren endlich doch noch Chancen.

Inzwischen gibt es das fünfte Gutachten, von einer Kapazität, vom Dekan der Gerichtsmedizin in Bern Prof. Richard Dirnhofer.

Auch für ihn sind die Verletzungen „für eine Überrollung charakteristisch“, auch er kann sich das durch ein „Umknicken“ nicht erklären, und damit steht es 4:1.

Darüber hinaus sagt der Österreicher Dirnhofer, dass es den Regeln der Kunst einer Gutachtenserstattung widerspricht, nicht sämtliche Unterlagen heranzuziehen.

Ein Kunstfehler des Gutachters T., über den mehrere Anwälte Beschwerde führen, also? Ein Grund zur Streichung? Theoretisch möglich, in der Praxis aber will man zuerst den Zivilprozess abwarten. T. ist ein viel beschäftigter Sachverständiger. Er steht zu seinem Gutachten. Eine Auswertung des Operationsberichtes, sagt er, hätte „keine Indizien für oder gegen eine bestimmte Unfallversion ergeben können.“ Im übrigen seien die Angaben des Opfers widersprüchlich gewesen.

Ein Lkw-Reifen überrollte und zerquetschte den linken Fuß von Kemal Ayvaz, er wurde noch am selben Tag operiert

Vom Steirer Richard Dirnhofer (im Bild bei der Erklärung des Erbgutes mit Kette und Kugeln) stammt das neueste Gutachten im „Fuß-Fall“ 

Quelle: Sonntag, 19.01.2003, (KURIER | Seite 9)