Europa im heißen Sommer 2015, quo vadis? Staatenbund, Bundesstaat, oder lose Ansammlung rechtsnational-autoritär regierter Fürstentümer? Was mit den Krisenereignissen 2009 als Frage aufgetaucht war, haben die jüngsten Entwicklungen im Umgang mit Griechenland in aller Deutlichkeit beantwortet: Die Europäische Union drückt einen wirtschaftspolitischen Kurs durch, dessen Koordinaten bereits in den Gründungsstatuten des Projekts Gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum festgeschrieben wurden. Durch den Wahlerfolg von SYRIZA war er erstmalig mit dem Mandat der Bevölkerung eines Mitgliedstaates in Frage gestellt worden. Sehen wir uns an, was dann geschah:

Es wurde, soviel steht schon fest, eine Grenze überschritten: Denn diese Infragestellung wurde von den politischen EntscheidungsträgerInnen im Euroraum nicht länger mit diskursiven Mitteln – also mit dem Versuch, argumentativ den Nachweis zu führen, dass die wirtschaftspolitische Strategie sinnvoller Weise beibehalten werden sollte – beantwortet, sondern mit Zwang. Europa befindet sich damit auf dem Weg zu einem „autoritären Wettbewerbsetatismus“[1]: Ohne sich länger auf breiten Konsens subalterner Gruppen stützen zu können, oder auch nur zu wollen, und teilweise ohne Rechtsgrundlage im europäischen Primärrecht[2], setzen die Eliten Maßnahmen um, die nur anscheinend technisch notwendig, bei näherer Betrachtung aber nicht nur kontraproduktiv, sondern einer Ideologie geschuldet sind. Und Ideologien sollte man hinterfragen können, sonst verlässt man abendländische Werte.

Es geht den Eliten – angeblich – um „Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt“. Dieses unhintergehbare Dogma reduziert bereits das Spektrum politischer Möglichkeiten auf ein Ensemble technischer Optionen zur Erreichung des vermeintlich notwendigen Ziels. SYRIZA wollte streiten und hat den Diskurs politisiert. Ihr kapitales Scheitern offenbart nicht so sehr die wenig überraschende Persistenz der gegenwärtigen Machtverhältnisse, sondern vor allem eines: die gestorbene Hoffnung auf ein sozial(er)es Europa in naher Zukunft.

Widerstand gegen die neoliberale Hegemonie in der Eurozone

Was wollte SYRIZA und warum ist ihr kein Kompromiss gelungen? Ein kurzer Rückblick: Im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2009 hatten Spekulationsattacken der Finanzmärkte auf einen griechischen Staatsbankrott die Zinssätze griechischer Staatsanleihen in astronomische Höhen befördert und somit den griechischen Staat an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gedrängt. Im Mai 2010 konnte eine Refinanzierung über den Kapitalmarkt nicht mehr gewährleistet werden; Griechenland suchte um Hilfe bei den Europartnern an und erhielt zunächst Hilfsgelder im Ausmaß von 110 Mrd. Euro. Bedingung der Gläubiger für eine Einigung war fortan die Implementierung einer strikten Austeritätspolitik: Über Kürzungen der öffentlichen Ausgaben bei gleichzeitiger Verbesserung des Steuersystems sollte der Haushalt „konsolidiert“ werden, um eine Verringerung der Staatsschulden zu erwirken, während eine Reduktion des Außenhandelsdefizits die internationale Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands wieder herstellen sollte. Begleitet von umfassenden Privatisierungen und unter Aufsicht der Troika wurden damit auch unpopuläre Maßnahmen umgesetzt, die freilich zu keiner wirtschaftlichen Erholung geführt haben, sondern im Gegenteil die Lage nur noch verschlimmerten. Was nicht weiter verwundern darf, gehören zum „Haushalt“ doch Einnahmen gleichermaßen wie Ausgaben. Wo aber sollten in einem zugeschnürten, ausgedörrten und schuldenbelasteten Land Einnahmen herkommen? Das reale BIP ging in den Jahren 2010 bis 2013 um 5,4%, 8,9%, 6,6% und 3,9% zurück. Der medial oft erwähnte, leichte Aufschwung 2014 von + 0,8% ist nur darauf zurückzuführen, dass das Preisniveau im selben Jahr um 1,4% gefallen ist, eine Deflation also ein negatives Nominalwachstum gedreht hat.[3] Die Bruttoschulden der öffentlichen Hand sind weiter angestiegen und liegen derzeit bei 177% des BIP. Da Wirtschaftsleistung und Beschäftigung immer in einem positiven Zusammenhang stehen, stieg natürlich die Arbeitslosenquote zwischen 2010 und 2012 um 12 Prozentpunkte auf 24,3%. Das wurde keineswegs übersehen, sondern in Kauf genommen. Die Jugendarbeitslosigkeit hat die 70 Prozentmarke (!) erreicht – würden Sie Ihre Zukunft in einem Land sehen, in dem Sie nur eine 30%-Chance haben, einen Job zu ergattern? –, während mittlerweile knapp 35% der Griechen unter der Armutsgrenze leben.[4] Ihnen ist sogar die Alternative des Auswanderns genommen. Renten- und Lohnkürzungen bedeuteten zusätzliche Einkommensausfälle, was wiederum negative Auswirkungen auf den Konsum, die Binnennachfrage und damit das Bruttoinlandsprodukt hat. Investitionsanreize sehen anders aus.

Diese verheerenden sozialen Verhältnisse führten schließlich zu einer Mobilisierung der Massen, die plötzlich mit SYRIZA eine politische Stimme erhielten. Das Emporkommen dieser Partei binnen kurzer Zeit und ihr offenes Einstehen für eine soziale – aus Sicht der konservativen europäischen Eliten: linke – Politik, die aus dem Würgegriff des Austeritätsregimes ausbrechen will, markierten die Emergenz von etwas Neuem in Europa:[5] Hier schickte sich doch tatsächlich eine Partei an, mit dem neoliberalen Paradigma zu brechen und einen Transformationsprozess einzuleiten. Das hatte noch niemand zuvor gewagt, insbesondere die europäische Sozialdemokratie nicht, die sich längst mit jener Ideologie, die ihr bis zu ihrem nahen Ende noch Dienstautos und Versorgungsposten zu verschaffen vermag, arrangiert hatte.

SYRIZA war realpolitisch hellsichtig genug, um diesen Transformationsprozess innerhalb der Eurozone zu verfolgen. Revolution hatte sie keineswegs auf ihre Fahnen geschrieben, und auch an theoretischen Konzepten, wie der Transformationsprozess gehen könnte, mangelte es nicht.[6] Demnach hätte kein radikaler Bruch mit der Austerität vollzogen werden sollen, sondern die Umsetzung von Maßnahmen, wie sie vor vierzig Jahren Teil jedes sozialdemokratischen Standardprogramms gewesen wären.[7] Die vorgesehenen Reformen zur sozialen Gerechtigkeit bzw. der Beseitigung des humanitären Elends (Erhöhung der Transferleistungen an die sozial Schwächsten, Anhebung der steuerfreien Einkommensgrenze, etc.), würden eine wirtschaftliche Erholung begünstigen. Denn wenn die Einkommen breiter Bevölkerungsschichten wieder ansteigen, wirkt sich dies positiv auf Nachfrage und Produktion aus. Erst auf dieser Grundlage ist eine – auch von SYRIZA als notwendig erkannte – Konsolidierung des öffentlichen Haushalts möglich.

Durchsetzbar wäre eine solche Strategie für Griechenland allemal gewesen, jedoch nur dann, wenn auch aufseiten der Gläubiger dazu Bereitschaft bestanden hätte. Warum sollten die Gläubiger so eine Bereitschaft zeigen? Normalerweise deshalb, weil sie sonst Gefahr laufen, noch viel mehr zu verlieren oder weniger zu kriegen als ihre Mitgläubiger – eine Problemlage, wie sie bei jedem insolvenzgefährdeten Schuldner auftritt, Banken sind mit so etwas vertraut. Aber für Staaten gibt es noch kein geordnetes Insolvenzverfahren,[8] Banken wissen das und damit auch, was ihnen droht, wenn sie keine Bereitschaft zeigen: nichts. Oder positiv gewendet: Für Banken schaut bei einer Staatspleite relativ viel heraus. Ein Staat ist kein Unternehmen. Man hätte hic et nunc einen Schuldenschnitt machen oder die Staatsschuld einen Schuldner, den es auch noch in hundert Jahren geben wird, langfristig abstottern lassen können. Aber das hätte die Unterstützung der europäischen Institutionen gebraucht, insbesondere der EZB. Die Hoffnung von Tsipras und Varoufakis war, dass es Widersprüche innerhalb der politischen Eliten gäbe und sich Akteure für die Umsetzung ihrer Ziele zumindest kurzfristig gewinnen ließen.[9]

Diese Hoffnung wurde jäh enttäuscht. Von Anfang an verfolgten die politischen EntscheidungsträgerInnen in der EU die Strategie, SYRIZA scheitern zu lassen, denn „eine weitergehende politische Alternative zu verhindern, ist im Augenblick die verbindende Motivation der Eurogruppe.“[10] Eine Allianz mit Regierungen anderer verschuldeter Staaten entpuppte sich schnell als keine reale Alternative, denn – wie Yanis Varoufakis, mittlerweile Ex-Finanzminister Griechenlands, es jüngst in einem Interview formuliert hat – „von Anfang an haben die betreffenden Länder überdeutlich klargestellt, dass sie die energischsten Feinde unserer Regierung sind, von Anfang an. Der Grund hierfür ist, dass ihr größter Albtraum unser Erfolg ist: Hätten wir es geschafft, einen besseren Deal für Griechenland auszuhandeln, würde sie das politisch natürlich vernichten, sie müssten ihrer eigenen Bevölkerung erklären, warum sie nicht so verhandelt haben, wie wir es taten.“[11]

Die Strategie der Eurogruppe und der Institutionen (Troika)

Eine neue soziale Regierung stellt für die in Europa herrschenden Eliten aus Politik und Wirtschaft eine Bedrohung dar, die es mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen gilt. Zunächst schränkte die EZB den Handlungsspielraum SYRIZAs empfindlich ein, indem sie schon Anfang Februar beschloss, künftig keine griechischen Staatsanleihen mehr als Sicherheiten für Zentralbankgeld zu akzeptieren.[12] Dies war keineswegs eine ökonomisch notwendige Entscheidung: Die EZB als einzige Emittentin gesetzlicher Zahlungsmittel im Euroraum verfügt nämlich über potentiell unbeschränkte Liquiditätsressourcen, weshalb sie Wertpapiere mit schlechter Bonität („toxische Wertpapiere“) ohne weiteres mit frischem Geld aufkaufen kann. Sie hat dies im Zuge der Finanzkrise auch in großem Umfang getan, ebenso in den letzten Jahren, um Spekulationsattacken auf die öffentlichen Haushalte hochverschuldeter europäischer Staaten zu verringern. Warum also diesmal nicht, noch dazu in vergleichsweise bescheidenerem Umfang?

Durch diese folgenschwere Entscheidung, jedenfalls, wurden Liquiditätszuflüsse an griechische Banken aber in Höhe der Notkredite eingefroren, wodurch sich der griechische Staat nur mehr begrenzt bei den eigenen Banken verschulden und refinanzieren konnte. Die Zinsen auf Staatsanleihen stiegen wieder stark an, da sie aus Sicht der Marktteilnehmer nicht mehr im selben Maße veräußerlich (liquide) waren wie zuvor. Dramatische Konsequenz dieser Entwicklung war, dass sämtliche Bankfilialen in Griechenland einmal schließen mussten, als es in die heiße Phase der Verhandlungen ging. Und würde man sich dort nicht einigen, würden sie nie wieder aufsperren. Das Zahlungsmittelsystem Griechenlands stand vor dem Zusammenbruch. Mag man der nichtdeutsch dominierten (oder geführten) EZB noch technisch motivierte Absichten zusinnen, so wurde der Ideologiekrieg sichtbar durch eine mediale Hetze sondergleichen, insbesondere in Deutschland: Gesandte der griechischen Regierung wurden als inkompetent und weltfremd hingestellt. Wirkliche Vorschläge seien nirgendwo zu sehen, und ohne einen tragfähigen Maßnahmenkatalog könne es keine neue Einigung geben. In Wahrheit wurden von SYRIZA genau solche konkreten politischen Vorschläge unterbreitet. „Die an die Öffentlichkeit gelangte Reformliste von Ende März sieht beispielsweise einen Kampf gegen Steuerflucht, Luxussteuern oder Lizenzgebühren für die mächtigen privaten Fernsehsender vor.“[13] Innerhalb der Partei bestand sehr wohl ein Problembewusstsein für die Missstände in der griechischen Verwaltung und puncto Steuerhinterziehung[14] – beides ererbt von Vorgängerregierungen. Auch war die griechische Regierung schon früh zu erheblichen Kompromissen bereit.[15] Nichts desto trotz wurden die Verhandlungen von den Gläubigern so lange verschleppt, bis sich die finanzielle Lage Griechenlands dramatisch zuspitzte.[16] Die Europäische Kommission versuchte indessen, massiv in die Souveränitätsrechte Griechenlands einzugreifen, indem sie zwei Gesetzesinitiativen zur Bekämpfung der humanitären Krise im März blockieren wollte, da diese nicht zuvor mit den Institutionen (ehemals auch Troika genannt) abgesprochen wurden.[17] Schnell wurden ganz offen Taktiken angewandt, die einer Erpressung gleichkommen. Unter der Führung Deutschlands haben Eurogruppe und Institutionen schnell einen Block gebildet, dessen Maxime lautete: Beibehaltung der restriktiven, neoliberalen Wirtschaftspolitik und Isolation SYRIZAs um jeden Preis.

Die Strategie SYRIZAs

SYRIZA hatte das Mandat, einerseits eine Beendigung der verheerenden Sparpolitik durchzusetzen, andererseits dies auf dem Weg einer Einigung mit den Gläubigern zu erreichen und einen Verbleib Griechenlands in der Eurozone zu sichern. Diese Orientierung war politisch gesehen von Anfang an fragwürdig, da sie dazu führt, „dass Syriza auf ihr zentrales Drohpotenzial in den Verhandlungen verzichtet.“[18] Zunächst versuchte die Partei, insbesondere Yanis Varoufakis, eine breite Diskussion über die ökonomische Sinnhaftigkeit von Austeritätspolitik in der griechischen Situation zu entfachen, stieß dabei aber bei den Mächtigen, also den politischen AkteurInnen in den Institutionen und der Eurogruppe, auf taube Ohren.[19] Im öffentlichen Diskurs mehrten sich immerhin die Stimmen namhafter Ökonomen, die einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel für wünschenswert und notwendig hielten.[20] Eigentlich sollte es einsichtig sein, dass sparbedingte Nachfrageausfälle die Einkommen reduzieren müssen, wodurch die Schuldenproblematik nur noch zugespitzt wird. Dass kapitalistische Ökonomie, um zu wachsen, strukturell Verschuldung benötigt, während eine völlige Äquivalenz von Ausgaben und Einnahmen zur Stagnation führt, kann ebenso leicht gezeigt werden. Die argumentative Verteidigung einer Gegenposition erscheint hier nur um den Preis geradezu absurder Annahmen möglich, wie bspw. durch einen Rückgriff auf das unhaltbare Theorem der Ricardianischen Äquivalenz, in dem verkürzt gesagt unterstellt wird, dass die privaten Haushalte auf ein staatliches Defizit mit Sparbemühungen reagieren, da sie künftige Steuererhöhungen erwarten.[21]

Welches ökonomische Kalkül also wirklich hinter den Forderungen von Troika und Eurogruppe steht, ist schwer nachzuvollziehen, denn eigentlich sollten auch die Gläubiger ein Interesse daran haben, dass es zu einer nachhaltigen Sanierung der griechischen Wirtschaft kommt. Doch geht es „keineswegs um ökonomische Interessen im engeren Sinne. Dafür ist die wirtschaftliche Bedeutung Griechenlands viel zu gering. Vielmehr dreht sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob eine politökonomische Alternative innerhalb der Eurozone möglich ist.“[22] Neben diesem Befund lohnt sich aber auch ein Blick darauf, dass gerade Deutschland von einer unterbewerteten Währung profitiert. Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung, hat errechnet, dass die deutschen Exporte infolge der durch die Griechenland-Krise bedingten Euroabwertung um 50 Milliarden Euro gestiegen sind.[23] Folker Hellmeyer, Chefanalyst der Bremer Landesbank, weist auf den Zinsvorteil Deutschlands hin, den es aufgrund der Schwäche anderer Länder wie Griechenland hat.[24]

Da Griechenland über keine eigene Währung mehr verfügt und die Europäische Zentralbank ihre Rolle als lender of last resort (d.h. als Liquiditätsquelle) nicht mehr wahrnahm, trockneten die monetären Kanäle sukzessive aus, sodass der Staat seine Leistungen nicht mehr zahlen konnte. An diesem Punkt wäre ein „Grexit“, also der Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone, die einzige Chance gewesen, einen Zusammenbruch des Wirtschaftssystems in Griechenland zu verhindern. Doch selbst diese Möglichkeit hätte überaus prekäre Konsequenzen gehabt, da neu eingeführte Schuldscheine der Regierung mit dem Status einer Parallelwährung gegenüber dem bisher geltenden Zahlungsmittel Euro massiv abwerten würden. Yanis Varoufakis und der linke Parteiflügel SYRIZAs optierten dennoch für diese Option.[25] Tsipras versuchte hingegen als letztes Manöver, sich durch ein Referendum das Mandat der Bevölkerung zu sichern und weiterhin eine Zurückweisung des oktroyierten Forderungskataloges geltend zu machen – unter Beibehaltung des Euros. Mit großer Mehrheit votierten die griechischen Bürgerinnen und Bürger mit „Oxi“, also einem Nein zur Fortsetzung der Austeritätspolitik. Gestärkt durch diesen innenpolitischen Erfolg reiste Tsipras nach Brüssel, in der Hoffnung, mit dem Wind der demokratischen Legitimität im Rücken den Gläubigern Zugeständnisse abzugewinnen.

Der Euro-Gipfel vom 12.07.2015 und seine Konsequenzen

Das Referendum hatte Premier Tsipras zu einer Stärkung der Verhandlungsposition gedient, denn durch das „Oxi“ wäre nun plötzlich auch ein „Grexit“ ein legitimer Weg gewesen. Damit konnte SYRIZA eigentlich einen wichtigen Druckpunkt gewinnen. Wie würden also die Gläubiger (Gegner) reagieren? Beim großen Krisengipfel der Euroländer ist dann etwas Bemerkenswertes geschehen. Deutschlands Finanzminister Schäuble brachte ganz offen den Vorschlag ein, einen „Grexit auf Zeit“ nicht auszuschließen. Durch diesen Zug wurde Tsipras letztlich Schachmatt gesetzt. Sein Nachgeben in nahezu allen relevanten Punkten erweist sich als Konsequenz einer Prämisse, die der griechische Prämier nun offen legen musste: Ein Grexit muss verhindert werden, da Griechenland darauf überhaupt nicht vorbereitet ist. Die Taktik Schäubles kann in ihrer Finesse gar nicht hoch genug eingestuft werden. Deutschland entschärfte den neuen Drohpunkt SYRIZAs, der sich schlussendlich als Bluff erwiesen hat, indem es selbst einen Grexit offen ins Spiel brachte, und konnte somit einen Forderungskatalog vorlegen, der noch viel weitergehende Einschränkungen für den griechischen Staat vorsieht als die ohnehin schon restriktiven Auflagen der Gläubiger, bspw. „quasi-automatische Ausgabenkürzungen“ oder die Errichtung eines Fonds, in den Privatisierungserlöse aus griechischen Vermögenswerten im Ausmaß von bis zu 50 Mrd. Euro fließen sollen, wobei aber ein Großteil dieser Gelder für die Rekapitalisierung der Banken und Schuldentilgungen verwendet werden wird, und nur ein Viertel für gesamtwirtschaftlich wünschenswerte Investitionen.[26] Deutschland untermauerte damit eindrucksvoll seine Machtstellung in Europa. Es provozierte zwar einen offenen Konflikt mit anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Österreich, die sich über diesen Vorstoß mit enormem Eskalationspotential empörten, schuf damit jedoch zugleich die Bedingungen dafür, dass die Einigung des Gipfels als Kompromiss mit beiderseitigem Nachgeben erscheinen konnte, während es in Wahrheit eine Art Staatsstreich war. Tsipras wirkte danach wie ein Mann, der, nachdem ihm eine Pistole an die Brust gesetzt worden war, sich für das Leben entschieden hat, unter den Bedingungen der Knechtschaft. Die ausgehandelten Reformen konnten im griechischen Parlament nur mithilfe der reaktionären Opposition und gegen den Volkswillen (wie er sich zuvor im Referendum ausgesprochen hatte) durchgesetzt werden. SYRIZA erlebt nun de facto eine Parteispaltung. Auf europäischer Ebene haben die Verteidiger des Status quo einen überwältigenden Sieg errungen. Zugleich hat die „Schlacht um Athen“ eine latente Tendenz in einen manifesten Zustand überführt: Das europäische Integrationsprojekt ist von einem Verfall der repräsentativen Demokratie bei gleichzeitiger Aufwertung einer Exekutive geprägt, deren Legitimität aber fragwürdig ist. Alleine der Aufschrei der Machthaber in den Medien, als SYRIZA die Durchführung eines Referendums angekündigt hatte, beweist die Insensitivität gegenüber demokratiepolitischen Erwägungen. Das kapitale Scheitern SYRIZAs und die Tatsache, dass die Sozialdemokratie in den europäischen Zentrumsländern längst eine Allianz mit jenen Kräften gebildet hat, gegen die sie einst gekämpft hatte, lassen die Aussichten auf eine Transformation der Europäischen Union zugunsten von mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit in einem trüben Licht erscheinen.

Zu befürchten ist überdies, dass sich der Protest der Bevölkerungen nun vor allem extrem rechts artikulieren wird. Anzeichen in Frankreich und Österreich gibt es hierfür bereits mehr als deutliche.

Mathias Funk, 12.8.2015


 

[1] Oberndorfer, Lukas (2012): Hegemoniekrise in Europa – Auf dem Weg zu einem autoritären Wettbewerbsetatismus? In: Forschungsgruppe ‚Staatsprojekt Europa‘ (Hg.): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Etatismus und europäischem Frühling, Münster: 50-72. https://rechtsvergleichung.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/ Rechtsvergleich_Verschraegen/Verschraegen/MitarbeiterInnen/ Lukas_Oberndorfer/L.Oberndorfer__Hegemoniekrise_in_Europa_-_Am_Weg_zu_einem__autorit%C3%A4ren_ Wettbewerbsetatismus__in_Forschungsgurppe_Staatsprojekt_Europa __Hrsg___Die_EU_in_der_Krise__2012.pdf

[2] Vgl.: Ebenda, 64. Mit Einführung der „Economic Governance“ kam es zu einer Kompetenzverschiebung, die keinerlei Grundlage in der „europäischen Verfassung“ (d.h. in den Gründungsverträgen der EU) hat.

[3] Quelle: Eurostat.

[4] http://wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/europa/3845582/Griechenland-die-Armut-ist-in-der-Mitte-der-Gesellschaft-angekommen 
[Nicht mehr online verfügbar – Artikel im Webarchiv]

[5] Badiou, Alain/Kouvelakis, Stathis (2015): Dangerous Days Ahead. https://www.jacobinmag.com/2015/04/greece-syriza-euro-austerity/

[6] Varoufakis / Galbraith / Holland / Schäfer: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise, 2015; Flassbeck / Lapavitsas: Against the Troika. Crisis and Austerity in the Eurozone, 2015; uva.

[7] Žižek, Slavoj (2015): Griechenland-Referendum: Was ist jetzt noch links? http://www.zeit.de/2015/27/griechische-schulden-griechenland-europaeische-union/seite-3

[8] Trotz zahlreicher dahingehender Forderungen und Vorschläge, vgl. Raffer: Griechenland, Eurokrise und die Notwendigkeit einer geordneten Staatsinsolvenz, https://homepage.univie.ac.at/kunibert.raffer/KR-GR-zensiert.pdf. uva. Auch Österreich war 1811 schon einmal bankrott.

[9] Konecny, Martin (2015): Syriza unter Druck. Zu den strategischen Perspektiven des linken Regierungsprojekts in Griechenland. In: PROKLA 45 (2): 326.

[10] Ebenda, 329.

[11] Varoufakis, Yanis (2015): Sie haben uns in die Falle gelockt. Interview, 15.07.2015, Neues Deutschland. http://www.neues-deutschland.de/artikel/977827.sie-haben-uns-in-die-falle-gelockt.html

[12] Ederer, Stefan (2015): EZB erpresst Griechenland und gefährdet die Währungsunion. In: mosaik – Politik neu zusammensetzen: http://mosaik-blog.at/ezb-erpresst-griechenland-und-gefaehrdet-damit-die-waehrungsunion/

[13] Konecny (2015): 328

[14] Tsipras, Alexis (2015): Grexit wäre Anfang vom Ende der Eurozone. Interview, 19.06.2015, Kurier. http://kurier.at/politik/ausland/griechen-premier-tsipras-grexit-waere-anfang-vom-ende-der-eurozone/136.890.896

[15] Vgl.: Kadritzke, Niels (2015): Syrizas Entgegenkommen. http://politik-im-spiegel.de/syrizias-entgegenkommen/

[16] Vgl.: Varoufakis (2015)

[17] Konecny (2015): 329

[18] Ebenda, 325 f.

[19] Varoufakis (2015)

[20] Vgl. bspw.: Piketty, Thomas et al (2015): Austerity has failed: an open letter from Thomas Piketty to Angela Merkel. http://www.thenation.com/article/austerity-has-failed-an-open-letter-from-thomas-piketty-to-angela-merkel/

[21] Zur Ricardianischen Äquivalenz und ihrer Unhaltbarkeit siehe: Grunert, Günther (2015): Die Expertise des Internationalen Währungsfonds. http://www.flassbeck-economics.de/die-expertise-des-internationalen-waehrungsfonds/

[22] Konecny (2015): 330

[23] Griechenland: Das Märchen vom deutschen Zahlmeister. https://web.archive.org/web/20130124212759/http://www.wdr.de/ tv/monitor/sendungen/2012/0301/griechenland.php5

[24] Ebenda

[25] Varoufakis (2015)

[26] Erklärung des Euro Gipfels. Brüssel, 12.07.2015. http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2015/07/12-euro-summit-statement-greece/