Schönen guten Abend! Ich bin zu dieser Vortragsreihe, die ja – wie Sie wissen – den Titel „Perspektiven der Bewusstseinsforschung“ trägt, eingeladen worden, um auch die Ökonomie in die Vielheit möglicher Betrachtungsweisen des Bewusstseins zu integrieren. „Ökonomie“ meint dabei zweierlei: Zum einen bezeichnet dieser Begriff das reale Wirtschaftsgeschehen, also die Produktion, Verteilung, und Konsumtion von Gütern bzw. Dienstleistungen, die gegenwärtig ganz überwiegend nach kapitalistischen Funktionsprinzipien organisiert werden. Zum anderen bezieht er sich aber auch auf das Nachdenken, das theoretische Erfassen und Erklären dieser Vorgänge, also auf die wirtschaftswissenschaftlichen Diskurse.
Beide Bedeutungen – vielleicht könnte man von nicht-diskursiven und diskursiven Praktiken sprechen – wirken freilich nicht unabhängig voneinander, sondern aufeinander ein, weshalb sie ja denselben Signifikanten besitzen. Soll heißen: Realwirtschaftliche Vorgänge bilden den theoretischen Gegenstand der ökonomischen Lehre, und deren Konstruktionen, Einsichten, Schlussfolgerungen nehmen wiederum Einfluss auf die Teilnehmer des wirtschaftlichen Verkehrs – vor allem natürlich auf Unternehmen und wirtschaftspolitische Organisationen. Eine der Thesen dieses Vortrags lautet – in Übereinstimmung mit zahlreichen theoretischen Abhandlungen – dass das hegemoniale Paradigma der zeitgenössischen Ökonomie der „Neoliberalismus“ ist, wobei ich im weiteren Verlauf noch auf die genaue Bedeutung dieses Begriffs zurückkommen werde.
„Ökonomie des Selbst“ ist vor dem Hintergrund dieser einleitenden Bemerkungen so zu verstehen, dass die Konstruktion von Subjektivität unter ökonomischen Gesichtspunkten erfolgen kann, und – darüber hinausgehend – heute überwiegend in dieser Art erfolgt. Verknüpft ist diese Aussage mit der soziologischen These, wonach in der globalen Weltgesellschaft das ökonomische System eine gewisse Sonderstellung bzw. Dominanz erlangt hat.
Bevor darauf weiter einzugehen sein wird, möchte ich auch einige allgemeine Bemerkungen voranschicken, die den Themenkomplex des „Selbst“ betreffen. Was ist das Selbst? Kierkegaard sagt: „Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“[1] Diese Formulierung ist freilich paradox, weil in ihr tautologisch das zu Erklärende bereits vorausgesetzt wird. Zugleich beinhaltet sie eine tiefe Einsicht der Subjektphilosophie: Ein „Selbst“ oder „Subjekt“ – man könnte auch sagen: die Beziehung, die ein Bewusstsein zu sich selbst unterhält – ist ein paradoxes Phänomen, weil es in seiner zirkulären Struktur sich selbst notwendig und uneinholbar vorausgesetzt ist. Das Wissen fällt nicht mit dem gewussten Gegenstand zusammen, sondern geht über diesen hinaus. Das Subjekt ist nicht Objekt. Jeder Versuch, es objektiv zu bestimmen, verfehlt das Phänomen, ja, dieses Verfehlen ist das Phänomen, das Phänomen der Subjektivität.
Diese Einsicht wird auch von der Psychoanalyse Jaques Lacans aufgegriffen, der davon spricht, dass das Subjekt zunächst nur als Mangel existiert. „Dieser Mangel ist Mangel an Sein [...]. Es ist nicht der Mangel an diesem oder jenem, sondern Mangel an Sein, wodurch Sein [das Subjekt] existiert.“[2] Diese, möglicherweise etwas seltsam anmutende, These bleibt natürlich nicht bei der Aussage stehen, das Subjekt sei nur Mangel. Sie verweist lediglich auf die bedeutende Rolle, die Kultur und Gesellschaft bei der Subjekt-Werdung spielen. Niemand kommt als „fertiges“ Subjekt auf die Welt. Zu einem Subjekt wird man und zugleich ist es auch richtig zu sagen: Zu einem Subjekt wird man gemacht (Lacanianer sprechen von einer „erzwungenen Wahl“). Genau der Seinsmangel, der das Subjekt in seinem Innersten prägt, eröffnet einen Raum für Identifikation, dafür, dass das Subjekt einen bestimmten Ort im Symbolischen einzunehmen versucht und sich selbst nach einem bestimmten Bild zu entwerfen vermag. Entscheidend ist für Lacan dabei, dass Subjektivierung immer in einem Akt der Unterwerfung geschieht: Schon das Kleinkind unterwirft sich einer (nicht von ihm gestifteten) symbolischen Ordnung, wenn es zu sprechen beginnt (sog. Alienation), oder sein sexuelles Begehren von der Mutter/dem Vater ablenkt, weil es das ihm auferlegte Verbot akzeptiert (Überwindung des Ödipuskomplex). Doch Identifikationsprozesse enden keineswegs mit der frühkindlichen Sozialisation. Sie laufen ein Leben lang weiter und bilden konstitutive Ermöglichungsbedingungen für Ideologien, wie schon Althusser wusste. Althusser spricht davon, dass jede Ideologie die Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu „konstituieren“. Dies geschieht durch einen bestimmten Vorgang, den er „Anrufung“ (bzw. „Interpellation“) nennt.[3] Während Althussers Analyse aber auf die ideologische Anrufung durch einen zentralisierten Staatsapparat beschränkt bleibt, weitet Michel Foucault das Modell aus, indem er von nicht auf einzelne Institutionen beschränkten Machtdispositiven spricht, die einem geschichtlichen Wandel unterliegen, Subjekte aber keinesfalls nur unterdrücken, sondern die spezifischen Subjektformen in einem gewissen Sinne erst produzieren. Die Macht ist produktiv. Eine Analyse von Subjektivierungsformen kann in Foucaults Augen nicht bedeuten, einen dem historischen Kontext enthobenen, allgemeinen und universellen Subjektbegriff herauszuarbeiten. Die Klärung der Frage, „auf welche Weise ein Mensch zum Subjekt wird“,[4] führt nur über eine Untersuchung der praktischen Genese moderner Subjektvorstellungen im Kontext sozialer Machtstrategien. Judith Butler schreibt in Anlehnung an Foucault: „Die Macht ist dem Subjekt äußerlich, und sie ist zugleich der Ort des Subjekts selbst. Dieser offensichtliche Widerspruch wird sinnvoll, wenn wir uns klarmachen, dass kein Subjekt ohne Macht entsteht, dass aber die Subjektwerdung zugleich eine Verschleierung der Macht impliziert, eine metaleptische Umkehrung, in der das durch die Macht hervorgebrachte Subjekt zum Subjekt angerufen wird, in dem die Macht gründet.“[5]
In diesem Vortrag wird es nun darum gehen, wie diese subjektkonstituierende Anrufung in der Gegenwart, unter Bedingungen des Neoliberalismus, verfährt. Beschränkt wird das Untersuchungsfeld dabei geographisch auf die postindustriellen, westlichen Gesellschaften. Um die zentrale These vorweg zu nehmen: Die heutige Anrufung verlangt vom Einzelnen nicht mehr so sehr Disziplinierung, Triebunterdrückung und Anpassung an vorgegebene Normenmuster. Sie fordert Eigeninitiative, Flexibilität und Unternehmergeist. Diese Imperative sorgen dabei für eine Abstimmung der sozialintegrativen Verhaltensanforderungen mit den neuen ökonomischen Verhältnissen, die der sich wandelnde Kapitalismus in der „postfordistischen“ Ära erzeugt hat. Neue Zugewinne an Autonomie werfen dabei den Schatten der sozialen Fragmentierung, einer weitgehenden Entpolitisierung der Öffentlichkeit sowie einer Ökonomisierung der Psyche. Indem der Neoliberalismus Postulate einer umfassenden Selbstverantwortung der Individuen propagiert, schafft er Freiräume durch die Schwächung von Institutionen. Indem er eine soziale Praxis stabilisiert, die Massenarbeitslosigkeit, zunehmende Vermögensungleichverteilung, einen Armutsanstieg und allgemein die Bereicherung einer kleinen Elite auf Kosten der überwältigenden Mehrheit hervorbringt und vertieft, ist er zugleich ideologisch. Der Einzelne fühlt sich heute nicht so sehr unterdrückt als unzulänglich. Seine unglückliche Situation führt er weniger darauf zurück, ein Beherrschter zu sein, als eher darauf, zu den Verlierern der Wettbewerbsgesellschaft zu gehören. Die neoliberale Stimme mahnt ihn heute nicht: „Das darfst du nicht tun!“. Sie flüstert vielmehr: „Du darfst! Dir stehen so gut wie alle Möglichkeiten offen!“ – und das Individuum schlussfolgert: „... und wenn ich meine Ziele nicht erreiche, dann bin ich wohl selber schuld.“
Aber zunächst zurück zu Foucault: Dieser konstatierte in seiner bahnbrechenden Untersuchung Überwachen und Strafen das Heraufkommen einer neuen Machttechnologie im 17. und 18. Jahrhundert: die Disziplinen. Diese sorgen vermittels institutioneller Zwangsausübung in Schulen, Fabriken, Kasernen, Kliniken und Gefängnissen für eine Kontrolle der Körpertätigkeiten. Die Disziplinarmacht erzeugt eine neue Subjektivierungsform, also eine neue Art der Beziehung, die der Mensch zu sich selbst unterhält, und sie tut dies vermittels einer Einwirkung auf den Körper. Foucault schreibt: „Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff. Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper – durch Machtausübung an jenem, den man bestraft, und in einem allgemeineren Sinn an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an den Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert.“[6] Die Disziplinen[7] wirken differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend und ausschließend.[8] Christoph Menke merkt hierzu an: „Disziplinäre Prozeduren üben soziale Herrschaft aus, indem sie die Unterworfenen zu Subjekten machen, die selbst fähig und willens sind, die von ihnen verlangten Leistungen zu erbringen. Die Adressaten der Disziplin befolgen also nicht Befehle, deren normativen Gehalt sie nicht beurteilen können. (Das war die traditionelle Bestimmung des Knechts oder Sklaven [...]). Sie können sich vielmehr selbst nach den Normen ausrichten, deren Verwirklichung von ihnen verlangt wird.“[9] Die Milderung der Strafen, die sich etwa im Verschwinden der Marter am Ende des 18. Jahrhunderts zeigt, ist nach Foucault weniger auf einen humanitären, von der Aufklärung bewirkten Fortschritt zurückzuführen, als auf eine Verfeinerung von Machtstrategien, bzw. auf die Entstehung eines neuen Machtkomplexes, die effizienzsteigernd wirkt.
Wie Gilles Deleuze bemerkte, gerieten die Disziplinierungen ihrerseits in eine Krise, zugunsten neuer Kräfte, die sich langsam formierten und nach dem Zweiten Weltkrieg ausbreiteten. „Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen“,[10] lautet seine These, die er 1990 formuliert hat. Archetypen der neuen Organisationsmethodik sind nun nicht mehr sog. „Einschließungsmilieus“ wie die Schule oder Fabrik, sondern fluide Unternehmen. Deleuze schreibt: „Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen, zum zweifachen Vorteil des Patronats, das jedes Element in der Masse überwachte, und der Gewerkschaften, die eine Widerstandsmasse mobilisierten; das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer ausgezeichneter Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet. [...] Wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen.“[11]
Während also in Disziplinargesellschaften ein Regime des Überwachens und Strafens, der Normalisierung und Normenorientierung etabliert wurde, bildet sich in Kontrollgesellschaften so etwas wie eine Mikropolitik des Vergleichens heraus. Nach Zygmunt Bauman stehen wir heute am Ende der Ära vorgefertigter „Bezugsgruppen“ und treten in das Zeitalter des „universellen Vergleichs“ ein. Die neue Macht wirkt nicht mehr nur differenzierend, sondern darüber hinausgehend auch individualisierend. „Die Ziele individueller Selbstkonstruktion sind in diesem neuen Zeitalter deutlich und unwiederbringlich unterdeterminiert. Keiner kennt das Ziel, es ist beweglich geworden, man muss mehrmals die Richtung ändern, bevor man ans Ende kommt, und dieses Ende wird das Ende des individuellen Lebens sein.“[12] Etwa zur selben Zeit, in den 1990er Jahren, konstatierte auch der amerikanische Soziologe Richard Sennett einen grundlegenden Wertewandel: „Mit dem Angriff auf starre Bürokratien und mit der Betonung des Risikos beansprucht der flexible Kapitalismus, den Menschen, die kurzfristige Arbeitsverhältnisse eingehen, statt der geraden Linie einer Laufbahn im alten Sinne zu folgen, mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten. In Wirklichkeit schafft das Regime neue Kontrollen, statt die alten Regeln einfach zu beseitigen – aber diese neuen Kontrollen sind schwerer zu durchschauen.“[13] Der Mensch von heute ist weniger der von Institutionen konditionierte, unterworfene und disziplinierte Mensch, sondern eher der „flexible Mensch“. Dieser ist gezwungen, schnell auf wechselnde Verhältnisse zu reagieren, Diskontinuitäten auszuhalten, Risiken einzugehen und alle Aktivitäten in einem selbstentworfenen Lebensplan zu integrieren. Mit der Herauslösung aus traditionellen Bedeutungsmustern ist er gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen. „An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung getreten.“[14] Es sind genau diese Selbstverwirklichungsbestrebungen, die der „postmoderne“ Kapitalismus in seinen Verwertungskreislauf einverleibt. Er minimiert dadurch insofern den Systemwiderstand, als mit den Individualisierungsprozessen einerseits eine Entsolidarisierung einher geht – betont wird nämlich Eigenverantwortung und Eigeninitiative –, anderseits aber auch ein Freiheitsversprechen verbunden ist. Dieses Freiheitsversprechen hat seine historischen Wurzeln im Liberalismus, der sich als neue Regierungskunst im 18. Jahrhundert zu formieren begann.
Im Folgenden empfiehlt sich eine kurze historische Rückschau. Zunächst artikulierte sich der klassische Liberalismus in der schottischen Moralphilosophie, etwa bei David Hume, später auch in der politischen Ökonomie von Adam Smith und John Stuart Mill. Er forderte die „Anerkennung des Prinzips, dass es irgendwo eine Begrenzung der Regierung geben muss“.[15] Die Regierungsmacht des Staates müsse von innen her begrenzt werden, um das freie Spiel des Marktes zu gewährleisten, der in den frühen Theorien als Ort des Tausches aufgefasst wurde. „Die Grundfrage des Liberalismus [ist]: Was ist der Nutzwert der Regierung und aller Regierungshandlungen in einer Gesellschaft, in der der Ort des Tausches den wahren Wert der Dinge bestimmt?“[16] Die theoretische Konstruktion in den klassischen Schriften der politischen Ökonomie erfolgt in zwei Schritten: Zunächst soll erwiesen werden, dass mit dem Prinzip des „Laissez-faire“, durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage in einer freien Marktwirtschaft, der Einsatz von Ressourcen in einer Gesellschaft optimiert und ihr Reichtum maximiert werden. Sodann wird gefragt, wo und inwieweit die Staatsmacht beschränkt werden muss, damit sich die nützlichen Effekte des Marktprinzips bestmöglich entfalten können. Der Markt hatte also eine durchaus subversive Stoßrichtung: Er sollte die Notwendigkeit einer Begrenzung der Regierungsmacht erweisen, ja eine völlig neue Regierungspraxis etablieren, die im Begriff ist, Freiheit zu vollziehen. Gefordert wird die „Freiheit des Marktes, Freiheit des Verkäufers und Käufers, freie Ausübung des Eigentumsrechts, Diskussionsfreiheit, eventuell Ausdrucksfreiheit usw.“,[17] erläutert Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität. Zugleich erkennt der Liberalismus, dass Freiheit nicht einfach gegeben, sondern in gewissem Sinne erst hergestellt werden muss, und zwar ständig. Ebenso wird die Freiheit bedroht, wenn man die Individuen völlig ihrer Willkür überließe. Deshalb kommt es zur selben Zeit auch zu einer gewaltigen Ausweitung von Verfahren der Kontrolle und des Zwanges, die Foucault so eindrücklich in seiner Analyse der Disziplinartechniken beschrieben hat.
Die Entwicklung des Liberalismus ist keine lineare Erfolgsgeschichte, sondern hat bekanntlich tiefe Krisen erfahren. Zunächst sind freilich Ereignisse wie die napoleonischen Kriege und die Restauration zu nennen. Natürlich ist aber auch darauf hinzuweisen, dass der Kapitalismus im 19. Jahrhundert zwar zu einer enormen Vermehrung an Gütern führte, zugleich aber einen drastischen Anstieg von Elend und sozialer Ungleichheit bewirkte, sodass unter dem Druck der Arbeiterbewegungen neue Mechanismen der politischen Intervention eingerichtet werden mussten. In den 1930er Jahren schien „das alte liberale Ideal einer von staatlichen Eingriffen freien Marktwirtschaft [gar] tot und begraben.“[18] schreibt Colin Crouch. Die Neuformierungen des Liberalismus im Bannkreis totalitärer Systeme und keynesianisch verfahrender Staaten verfolgt Foucault anhand zweier Entwicklungslinien zurück: des deutschen Ordoliberalismus, der in der Nachkriegszeit Wirkung erlangt hat, und des amerikanischen Neoliberalismus der Chicagoer Schule.
Im deutschen Ordoliberalismus findet gegenüber klassisch-liberalen Ansätzen eine zentrale Verschiebung statt, die Foucault folgendermaßen zusammenfasst: Die Ökonomen im 18. Jahrhundert fragten: „Angenommen es gibt einen Staat, der legitim ist, [...] wie können wir ihn dann begrenzen und vor allem Raum für die notwendige wirtschaftliche Freiheit innerhalb dieses bestehenden Staates schaffen? Nun, die Deutschen mussten genau das umgekehrte Problem lösen. Angenommen, es gibt keinen Staat, wie wollen wir ihn im Ausgang von jenem nichtstaatlichen Raum der wirtschaftlichen Freiheit schaffen?“[19] Das Legitimationsproblem hat sich also verschoben. Nicht mehr rechtfertigt der vom Markt erzeugte Wohlstand eine Begrenzung der Regierungsmacht, sondern in gewissem Sinne überhaupt erst die Existenz eines Souveräns. Dieser legitimiert sich nur dann, wenn er die Bedingungen bereitstellt, innerhalb derer sich der Markt – und dieser wird verstanden als Raum, in dem die Bürger frei handeln können – optimal entfalten kann. Die Ordoliberalen kehren demnach die Formel um: Es soll sich mehr „um einen Staat unter Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter Aufsicht des Staates.“[20] Um den Markt tatsächlich als Form und Vorbild für den Staat und die Gesellschaft im Allgemeinen begreifen zu können, haben die Ordoliberalen eine Reihe von theoretischen Veränderungen vorgenommen, die für den Neoliberalismus insgesamt kennzeichnend geblieben sind. Zunächst gilt nicht mehr der Tausch, sondern der Wettbewerb als Prinzip des Marktes.[21] Dies impliziert, dass nicht mehr Äquivalenz, also die wechselseitige Befriedigung der Bedürfnisse, zentral ist, sondern im Gegenteil die Ungleichheit. Triebkraft marktwirtschaftlicher Entwicklung ist das Bestreben der Akteure, Wettbewerbsvorteile zu erlangen und zu stabilisieren bzw. Rückstände wettzumachen. Eine weitere Verschiebung betrifft die Einstellung, wonach nicht einfach Laissez-faire das bestimmende Prinzip sein darf, sondern der Wettbewerb vielmehr erst durch staatliche Rahmenbedingungen ermöglicht, und später aktiv von der Regierung begleitet werden muss. Die Regierung soll aber im Unterschied zu keynesianischen Interventionen nicht korrigierend in Marktergebnisse eingreifen, sondern Gesellschaftspolitik betreiben: Gemeint sind vor allem Maßnahmen im Bildungs-, Gesundheits-, und Sozialbereich, deren Ziel es ist, wettbewerbsfördernd zu wirken. Der deutsche Ordoliberalismus anerkennt also durchaus eine soziale Umwelt der Wirtschaft, die einer staatlichen Regulierung bedarf. Eine solche Trennung zwischen den Bereichen einer vom Wettbewerb geprägten Marktwirtschaft und einer, diese erst ermöglichenden und staatlich zu regulierenden sozialen Umwelt, lässt der amerikanische „Anarcholiberalismus“ nicht gelten. Sein entscheidender Vorstoß besteht darin, einen ganzen Bereich an sozialen Interaktionsfeldern nach ökonomischen Methoden zu interpretieren, die vormals als nicht-ökonomisch galten.
Diese analytische Expansion betrifft zunächst die Arbeit, die zwar immer in ökonomische Modelle als Produktionsfaktor Eingang gefunden hat, jedoch in abstrakter, passiver und nicht näher untersuchter Weise. Neoliberale Ökonomen der Chicagoer Schule fragen demgegenüber, wie der Arbeiter seine Ressourcen einsetzt, über die er verfügt. Die Menschen arbeiten, um einen Lohn zu erhalten. Der Lohn stellt aber nichts anderes dar als ein Einkommen, und Einkommen ist wiederum ganz einfach das Ergebnis oder der Ertrag eines Kapitals. Doch welchen Kapitals? Hier antworten Ökonomen wie Schultz oder Gary S. Becker, dass es sich um die Gesamtheit der physischen und psychischen Faktoren handelt, um eine Kombination aus angeborenen und erworbenen Elementen, um eine Gesamtheit, die Humankapital genannt werden kann. Der Arbeiter ist also selbst eine Art von Unternehmen, das einen Einkommensstrom über seine Lebenszeit generiert, indem es seine Ressourcen nützt und verbessert. Der klassische homo oeconomicus, also das zweckrational handelnde und nutzenmaximierende Individuum, wird unter dieser Perspektive modifiziert zu einem „Unternehmer seiner selbst“. Der amerikanische Neoliberalismus bleibt freilich nicht dabei stehen, allein den arbeitenden Menschen nach diesem Modell zu begreifen. Nach Becker ist ebenso der konsumierende Mensch ein Produzent, nämlich ein Produzent seiner eigenen Bedürfnisbefriedigung. Auch der Konsum muss als Unternehmensaktivität begriffen werden; ja, sämtliche sozialen Interaktionsmuster lassen sich Becker zufolge mit dieser ökonomischen Begrifflichkeit analysieren.
Auf der Grundlage dieser theoretischen Expansion einer ökonomischen Modellierung menschlichen Verhaltens vollzieht der amerikanische Neoliberalismus eine Radikalisierung gegenüber dem deutschen Ordoliberalismus, der ebenfalls die Entwicklung hin zu einer „Unternehmensgesellschaft“ anvisierte. Die ökonomische Form des Marktes soll nun auf den gesamten Gesellschaftskörper verallgemeinert werden. Dies ist ein bedeutender Schritt, weil er sich mit einer weiteren These verbindet: Die marktwirtschaftlichen Prozesse sind derart komplex, dass sie sozusagen von Natur aus undurchsichtig sind. Es gibt keine Position, von der aus man allgemeingültige Vorhersagen treffen könnte; die Gesamtheit der Ökonomie ist schlicht unerkennbar. Sowohl die Wirtschaftswissenschaft als auch die Regierung haben sich daher auf Analysen bzw. Maßnahmen zu konzentrieren, die die „einzige kleine Insel möglicher Rationalität innerhalb eines Wirtschaftsprozesses“[22] betreffen: den homo oeconomicus. Die Ökonomie ist eine Disziplin ohne Totalität, in der sich die Unmöglichkeit einer souveränen Perspektive manifestiert. Am klarsten wurde diese Anschauung vermutlich vom österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek formuliert, der vom „Wettbewerb als einem Entdeckungsverfahren“ spricht.[23] Keine Instanz außer dem Markt kann die verstreuten Informationen, die sich auf eine Vielzahl von Individuen und Organisationen verteilen, in angemessener Weise bündeln und verarbeiten. Die Fülle an individuellen Entscheidungen wird erst durch die Preisbildung auf dem Markt, und nur durch diese, objektiviert.
Ganz entscheidend ist nun, dass diese Vorstellungen nicht auf die akademischen Diskurse beschränkt geblieben sind, sondern eine wirtschaftspolitische Implementierung erfahren haben. Die deutsche Bundesrepublik hat schon in der Zeit ihrer Wiedererrichtung unter Ludwig Erhard (von 1949 bis 1963 Bundesminister für Wirtschaft, von 1963 bis 1966 deutscher Bundeskanzler) damit begonnen, zahlreiche ordoliberale Empfehlungen, wie sie etwa von einem 1947 konstituierten wissenschaftlichen Beirat ausgearbeitet worden waren, zu befolgen. Durchgesetzt hat sich der allgemeine Konsens, wonach nur eine liberale Staatskonzeption jene Bedingungen dauerhaft außer Kraft setzen kann, die den Nationalsozialismus begünstigt haben. In den 1960er Jahren legte auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein Bekenntnis zu ordoliberalen Grundsätzen ab.[24] Von 1970 bis 1975 wurde ebenso in Frankreich damit begonnen, schrittweise das deutsche Modell zu implementieren.[25] In den USA und in Großbritannien erfolgte eine Abkehr von keynesianisch inspirierter Steuerungspolitik unter Ronald Reagan (US-amerikanischer Präsident von 1981 bis 1989) und Margaret Thatcher (Premierministerin des Vereinigten Königreichs von 1979 bis 1990) in den 1980er Jahren. Mit dem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme ging eine Deregulierung und Liberalisierung der Märkte einher. Allgemein war der Keynesianismus angesichts der durch die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 verursachten, prekären Situation, in der hohe Arbeitslosigkeit und Inflation herrschten, im Niedergang begriffen. „Wirtschaftsexperten überzeugten die Politiker davon, den Keynesianismus zugunsten eines robusteren Modells aufzugeben. Dabei sollte die Vollbeschäftigung nicht länger explizites Ziel der Politik, sondern nur noch selbstverständliche Begleiterscheinung einer gesunden Wirtschaft sein. Regierungen und Zentralbanken sollten stattdessen für Preisstabilität sorgen und die Inflation niedrig halten. [...] Ende der siebziger Jahre begann auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die ihren Mitgliedsländern bis dahin keynesianische Nachfragesteuerung empfohlen hatte, freie Märkte zu befürworten. Sie forderte die Privatisierung staatlicher Industrien und öffentlicher Dienstleistungen, die Nachahmung privatwirtschaftlicher Methoden in der staatlichen Bürokratie [...] und die Mobilisierung von privatem Kapital für öffentliche infrastrukturelle Aufgaben.“[26] Dass die allgemeine Arbeitslosigkeit nicht vom Staat durch aktive Konjunkturpolitik beeinflusst werden darf, ist eine der zentralen Forderungen des Neoliberalismus. Sie findet ihre theoretische Fundierung mitunter in der Vorstellung, dass ein Arbeitsloser kein soziales Opfer, sondern ganz einfach ein Anbieter im Übergang ist. Dem Nichteingreifen der Regierung entspricht auf Ebene der Persönlichkeitssysteme eine Zunahme des Selbstverantwortungsimperativs. Ansprüche auf individuelle Selbstverwirklichung sind damit zu „institutionalisierten Erwartungsmustern der sozialen Reproduktion [... sowie] zur Legitimationsgrundlage des Systems geworden“.[27] Der herrschenden neoliberalen Ideologie zufolge krankt der Kapitalismus weder an inneren Widersprüchen, noch ist er ein Kampfplatz der beiden Antagonisten Kapitalisten und Arbeiter. Die Grundlagen der Marx’schen Kapitalismuskritik werden nivelliert, denn im Grunde ist jeder Kapitalist. Bei Marx haben die Proletarier nichts zu verlieren als ihre Ketten, im Neoliberalismus ist jeder (zumindest) im Besitz seines Humankapitals, das er im Wettbewerb zur Geltung bringen soll. Auf dieser ideologischen Einebnung vertikaler Differenzen im sozioökonomischen Raum beruht die Effektivität neoliberaler Machttechnologien.
Der soziostrukturelle Wandel, der in den letzten 60 Jahren in westlichen Gesellschaften zu einer Pluralisierung individueller Lebenswege geführt hat, ist freilich vielschichtig und komplex. Axel Honneth nennt mehrere Faktoren:[28] Ein Anwachsen von Einkommen und erwerbsarbeitsfreier Zeit hat den individuellen Handlungsspielraum allmählich erweitert und den Einfluss klassenspezifischer Lebensmilieus reduziert. Der Ausbau des Dienstleistungssektors hat die Aufstiegschancen für große Teile der Bevölkerung erhöht, also die soziale Mobilität gesteigert. Durch die Bildungsexpansion erweiterten sich zudem die Berufswahlmöglichkeiten rapide. Zu nennen ist auch eine mit dem Bedeutungsaufschwung des Konsums verbundene „Ästhetisierung des Alltagslebens“, durch die es zur Ausdifferenzierung pluraler Lebensstile gekommen ist, die soziologisch schwierig mittels schicht- oder klassenspezifischer Variablen erklärbar sind.[29] Ein objektiv feststellbarer Individualisierungsprozess ist, ebenso wie übrigens die Forderung nach Selbstbestimmung, kein Produkt des Neoliberalismus, sondern der Modernisierung insgesamt. Gleichsam bildet dieser Prozess aber den Nährboden für neoliberale Subjektivierungsstrategien, die sich in einer Forderung nach unternehmerischem Handeln verdichten. Was sind nun die Grundfunktionen desselben? Der Soziologe Ulrich Bröckling identifiziert vier zentrale Eigenschaften: „Unternehmer sind erstens findige Nutzer von Gewinnchancen, zweitens Neuerer, sie übernehmen drittens die Unsicherheiten des ökonomischen Prozesses und koordinieren schließlich viertens die Abläufe von Produktion und Vermarktung.“[30] Er betont dabei auch, dass das Unternehmermodell in Anlehnung an Schumpeter über das Konstrukt des rationalen Nutzenmaximierers, der sich lediglich um die Allokation knapper Mittel zur Erreichung diverser Zwecke bemüht, hinausgeht, da neue Gewinnmöglichkeiten erschlossen und genutzt werden sollen. Bröckling hält weiters fest: „Die zeitgenössischen Anrufungen des unternehmerischen Selbst radikalisieren das von den Nationalökonomen herausgearbeitete dynamische Modell unternehmerischen Handelns so weit, dass als einzige Konstante im Individuum die Notwendigkeit bleibt, sich fortwährend zu ändern, um die diskontinuierlichen und immer schnelleren Marktturbulenzen bewältigen zu können. Dabei sind Willenskraft und Wagemut auf der einen, nüchternes Kalkül auf der anderen Seite keine Gegensätze mehr, der Unternehmer seines eigenen Lebens hat vielmehr beides miteinander zu verbinden. Er ist zunächst und vor allem auf Findigkeit, Innovation und Übernahme von Unsicherheit geeicht, aber er soll zugleich die minutiöse Kontrolle und vorausschauende Planung nicht preisgeben.“[31] Kreativität, Empowerment, Qualitätsmanagement und die Übernahme von Projekten werden dabei zum Programm erhoben. Transmissionskanäle dieser Anrufung sind zunächst in der Managementliteratur auszumachen, die in den 1980er Jahren rapide anwuchs und beträchtliche Wirkungen auf eine neu entstehende Unternehmenskultur entfaltete. Betriebliche Hierarchien sollen ihr zufolge gelockert werden, damit Arbeitnehmer als „Interpreneure“ fungieren können, was wiederum der Aktivierung von Innovationspotentialen dient. Solche Managementstrategien wurden später in zahlreichen Lebensratgebern verarbeitet, sowie allgemein von Massenmedien aufgegriffen. Exemplarisch sei eine Passage aus einem bekannten Ratgeber von William Bridges, mit dem Titel Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet, zitiert: „Definieren Sie sich eindeutig als Produkt, und stellen Sie dann eine umfassende Marktforschung an. [...] Dazu müssen Sie sich als wirtschaftlich unabhängige Einheit betrachten, nicht als Teilstück, das ein Ganzes sucht, um darin zu funktionieren. Deshalb ist enorm wichtig, daß sie sich von einem Markt umgeben sehen, selbst wenn Sie Angestellter eines Unternehmens sind.“[32]
Paradigmatisch für den neuen Zeitgeist ist Bröckling zufolge das 360o-Feedback, ein System allseitiger Beurteilung, das als Instrument zur „Performance“-Messung aus dem Bereich des Personalmanagements in den letzten Jahren zunehmende Verbreitung gefunden hat. In ihm fließen mithilfe von Fragebögen Selbsteinschätzungen und Beurteilungen von Kollegen, Vorgesetzten, mitunter auch Kunden und Lieferanten zusammen, um einen „Check“ von Kundenorientierung, persönlicher Integrität, Innovationsfähigkeit und fachlicher Kompetenz zu erstellen. Ein daraus hervorgehendes, individuelles Leistungsprofil soll dem Entwurf eines Aktionsplans dienen, der eine Selbstoptimierung zum Ziel hat. „Kontrolle bedeutet nicht länger, die Kontrollierten auf einen festen Sollwert zu eichen, sondern eine unabschließbare Selbstoptimierung in Gang zu setzen.“[33] schreibt Bröckling. „Das Wachstum der Firma Ich & Co. hat kein Ziel, Wachstum ist das Ziel. Wer diesem Ziel folgt, wird nie ankommen, aber bleibt immer in Bewegung.“[34]
Um langsam zu einem Abschluss zu kommen, sollen die unterschiedlichen Konturen dieses neuen ideologischen Komplexes zusammengeführt werden. „Ökonomie des Selbst“ bedeutet heute nicht bloß, rationaler Nutzenmaximierer zu sein, sondern „Lebensunternehmer“. Im gleichen Maße wie wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme abgebaut und Ländergrenzen überschreitende Märkte dereguliert werden, agieren die auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekte unter einer von ihnen zunehmend internalisierten Perspektive, als wären sie Unternehmer ihrer selbst. Neoliberale Subjektanrufungen verknüpfen dabei das Bestreben nach Selbstverwirklichung mit Aussichten auf wirtschaftlichen Erfolg. Eine repressionstheoretische Erklärung dieses Vorgangs würde selbigen aber missverstehen. „Zu einer hegemonialen Gestalt konnte das unternehmerische Selbst [...] nur werden, weil sie an ein kollektives Begehren nach Autonomie, Selbstverwirklichung und nichtentfremdeter Arbeit anschloss. Ohne die utopischen Energien, ohne ihre Experimente mit nichthierarchischen Organisationsformen, ohne massenhafte Weigerung, das eigene Leben in vorgezeichneten Bahnen einer fordistischen Normalbiographie zu führen, hätte dieses Rollenmodell niemals eine solche Anziehungskraft entwickeln können.“[35] lautet die Diagnose Bröcklings. Auch Botlanski und Chiapello gehen davon aus, dass das Wiedererstarken des Kapitalismus nach seiner Krise in den späten 1960er und 70er Jahren damit zusammenhängt, dass Forderungen kritischer Gegenbewegungen nach mehr Autonomie und Authentizität und gegen die Uniformierung von Lebensweisen sowie Standardisierung in der Massenproduktion inkorporiert wurden.[36] Aufgrund dessen ist Kapitalismuskritik heute zum Teil orientierungslos geworden. Dies gilt insbesondere für Ansätze, die auf die frühe Frankfurter Schule rekurrieren und kulturindustrielle Massenproduktion nach dem Muster marxistischer Kategorien kritisieren. „Wir befinden uns nicht mehr dort.“, schreibt Foucault schon Ende der 1970er Jahre. Die neue Regierungskunst, „die jetzt für die meisten Regierungen kapitalistischer Länder zum Programm geworden ist, nun, dieser Entwurf strebt keineswegs nach der Errichtung jener Art von Gesellschaft. Es geht im Gegenteil darum, zu einer Gesellschaft zu gelangen, die sich nicht an Ware und an der Gleichförmigkeit der Ware ausrichtet, sondern an der Vielzahl und der Differenzierung der Unternehmen.“[37]
Eine Kritik an gegenwärtigen ökonomischen Verhältnissen ist deshalb gleichwohl genau so wenig überflüssig wie undurchführbar. Offensichtlich gibt es eine Reihe von Dysfunktionen, wie eklatante und stark wachsende Vermögensungleichgewichte, ansteigende Armut, fundamentale Instabilitäten im Finanzsystems, die den gesamten Wirtschaftsprozess bedrohen usw. Schwieriger als die Identifikation solcher systemischer Probleme ist es aber mit Sicherheit, der gegenwärtigen ideologischen Anrufung zu entkommen, da repressive Grenzen in ihrer Sichtbarkeit zunehmend verschwinden. „Die Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen schwindet zugunsten einer Spannung zwischen dem Möglichen und Unmöglichen.“, schreibt der französische Soziologe Alain Ehrenberg. „Das ideale Individuum wird nicht mehr an seiner Gefügigkeit gemessen, sondern an seiner Initiative. Hierin liegt eine der entscheidenden Veränderungen unserer Lebensweise [...].“[38] Ehrenberg beobachtet die starke Zunahme depressiver Erkrankungen, die zahlreiche Studien seit dem Zweiten Weltkrieg belegen, wobei insbesondere in den 1980er Jahren nochmals ein rapider Anstieg zu verzeichnen ist.[39] Dieses Phänomen setzt Ehrenberg in Beziehung zum kulturell-gesellschaftlichen Wandel, wie er in Grundzügen dieses Vortrags beschrieben wurde. „Die Depression ist eher eine Krankheit der Unzulänglichkeit als ein schuldhaftes Fehlverhalten, sie gehört mehr ins Reich der Dysfunktion als in das des Gesetzes.“[40] Interessant ist Ehrenbergs Analyse in diesem Zusammenhang also deshalb, weil sie den Wandel von der disziplinären zur postdisziplinären Gesellschaft auf der Ebene der Pathologien des psychischen Systems nachverfolgt. Zu Freuds Zeiten folgten weit verbreitete Krankheitsbilder einem neurotischen Muster, die aufgrund ausgeprägter Überich-Strukturen von einer Triebhemmung und einem damit einher gehenden intrapsychischen Konflikt erzeugt werden. Die Depression, die nun die Neurose als vorherrschendes psychisches Krankheitsbild abgelöst hat, ist der psychoanalytischen Therapie hingegen weitaus weniger zugänglich. Damit im Zusammenhang steht sicherlich auch der Boom medikamentöser Behandlungsformen. „Die Neurose ist das Resultat eines Konfliktes, bei dem man schuldig ist [...], wohingegen die Depression als Fehler verstanden wird, für den man sich schämt. [...] Die neurotische Persönlichkeit hat eine Krankheit des Gesetzes, die depressive Persönlichkeit hat eine Krankheit der Unzulänglichkeit. Ihr scheint ein gut ausgebildetes Überich zu fehlen, und sie leidet sehr wenig unter Konflikten.“[41] Wenn die Frage ‚Was kann ich?‘ die Frage ‚Was darf ich‘ ablöst, dann manifestieren sich psychische Erkrankungen weniger durch Schuld, als durch Scham. Nun bildet genau diese Verschiebung einen möglichen Erklärungsfaktor dafür, wie und warum Systemwiderstand heute kleingehalten werden kann, obwohl es bspw. relativ hohe Arbeitslosenraten gibt. Bietet die positive Seite der unternehmerischen Anrufung – ihre Forderung nach Selbstbestimmung – den Grund dafür, warum sich die Individuen im gegenwärtigen System engagieren, so erschließt die negative Kehrseite – das Gefühl der Scham und Unzulänglichkeit – warum sie nicht rebellieren. „Indem die Individuen ihre Wut, nicht zu genügen, [...] ausschließlich gegen sich selbst richten, bestätigen sie wider Willen noch einmal jene Tyrannei der Selbstverantwortung, gegen die ihre leidende Psyche rebelliert.“[42] Slavoj Žižek konstatiert – darüber hinausgehend – aus einer psychoanalytischen Perspektive: „Die Abwesenheit eindeutiger Grenzen frustriert uns nicht etwa, sie konfrontiert uns mit der Grenze als solcher, dem inhärenten Hindernis zur Befriedigung. Die wahre Funktion ausdrücklicher Grenzen besteht folglich darin, die Illusion aufrechtzuerhalten, wir könnten durch ihre Übertretung das Grenzenlose erreichen.“[43] Wenn diese Grenzen nun unsichtbar werden, findet eine Konfrontation mit dem eigenen (Un-)Vermögen statt, die deprimierend wirken kann. Der Zwang, der in den Disziplinen so stark sichtbar war, ist keineswegs verschwunden, denn „die Freiheit des Könnens erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann hat dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der vom Können ausgeht.“[44]
Dass Herrschaft und Zwang im heutigen System nicht verschwunden sind, sondern die Machttechnik des neoliberalen Regimes nur eine subtilere und geschmeidigere Form angenommen hat, ist eine These des Philosophen Byung-Chul Han.[45] In seinen Augen wäre eine kritische, freiheitsverbürgende Lebensform nur eine solche, die keine Produktionsform mehr ist. „Unsere Zukunft wird davon abhängen, ob wir in der Lage sein werden, jenseits der Produktion vom Unbrauchbaren Gebrauch zu machen.“[46] Vita contemplativa also, statt vita activa.
Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass die unternehmerische Anrufung notwendig anti-egalitäre Effekte zeitigt. Denn „unternehmerisch handelt man nur, sofern und solange man innovativer, findiger, wagemutiger, selbstverantwortlicher und führungsbewusster ist als die anderen. Die Beschwörung des Unternehmergeistes erweist sich somit als eine paradoxe Mobilisierung: Jeder soll Entrepreneur werden, aber wären wir es tatsächlich alle, wäre es keiner. Jeder könnte, aber nicht alle können.“[47] Dies ist eine Konsequenz, die von Ultraliberalen wie Hayek umstandslos bejaht wird. „Das geistige Wachstum einer Gemeinschaft beruht darauf,“ schreibt er, „daß die Ansichten einiger weniger sich allmählich verbreiten, selbst wenn das zum Nachteil derjenigen ist, die mit deren Übernahme zögern; [...] Schließlich ist der Wettbewerb immer ein Vorgang, in dem eine kleine Anzahl eine viel größere Anzahl nötigt, das zu tun, was diese nicht will – sei es härter zur arbeiten, Gewohnheiten zu ändern, oder ihrer Arbeit ein Maß von Aufmerksamkeit, ständiger Zuwendung oder Regelmäßigkeit zu widmen, das ohne Wettbewerb nicht erforderlich wäre.“[48]
Die Schwierigkeit, sich als Einzelner diesem Wettbewerbssog zu entziehen, besteht darin, dass „Anderssein“ genau einer der unternehmerischen Imperative ist. Es ginge also darum, anders anders zu sein, wie Bröckling anmerkt. „Der Markt ‚verarbeitet‘ unentwegt Alteritäten, indem er sie entweder als Alleinstellungsmerkmale privilegiert oder sie als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausschließt. Die Kunst anders anders zu sein, ist der Versuch, immer wieder die Unausweichlichkeit dieser Alternative in Frage zu stellen und Wege jenseits von Einverleibung und Aussonderung aufzutun.“[49]
Natürlich wird man im Allgemeinen entgegnen können, dass die Anrufung des unternehmerischen Selbst ideologisch ist, dass nach wie vor Grenzen existieren, dass wir nicht alles tun können, was wir wollen, auch, weil wir davon abgehalten werden. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Autonomie ist ein Schein, das Produkt einer Ideologie. Dies mag stimmen. Doch wir sollten uns mit Žižek in Erinnerung rufen, dass Ideologien auf einer tieferen Ebene wirken als einfache Lügen. Wir wissen, dass wir unser Handeln an einer Illusion orientieren, machen aber dennoch weiter. „Ideologie ist [...] nicht einfach eine Frage dessen, was wir denken, sondern in jede Situation eingeschrieben.“[50] Die Realfiktion des „Als-ob“ ist es, die heute mehr denn je wirkmächtig ist. Wir handeln, als ob wir Unternehmer unseres eigenen Lebens wären. Und um mit dieser Perspektive zu brechen, bedarf es wesentlich mehr, als einfach den Status ihrer Fiktion zu entlarven.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Vortrag von Mathias Funk, gehalten am 12.1.2016 im Rahmen der Vortragsreihe „Perspektiven der Bewusstseinsforschung“ der Akademie für Bewusstseinsforschung in Wien.
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[1] Kierkegaard, „Die Krankheit zum Tode“, 31.
[2] Lacan, „Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds und die Technik der Psychoanalyse“, 283.
[3] Althusser, „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, 142.
[4] Foucault, „Subjekt und Macht“, 270.
[5] Butler, „Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung“, 20.
[6] Foucault, „Überwachen und Strafen“ in: Die Hauptwerke, 732.
[7] Foucault nennt als Instrumente der Disziplinarmacht die hierarchische Überwachung, die normierende Sanktion und Prüfung. Vgl.: „Überwachen und Strafen“ in: Die Hauptwerke, 876 ff.
[8] Foucault, „Überwachen und Strafen“ in: Die Hauptwerke, 888.
[9] Menke, „Die Kraft der Kunst“, 136.
[10] Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“ in: Unterhandlungen 1972-1990, 255.
[11] Deleuze, „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, 257.
[12] Bauman, „Flüchtige Moderne“, 14.
[13] Sennett, „Der flexible Mensch“, 11.
[14] Menke/Rebentisch, „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“, 7.
[15] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 40.
[16] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 76.
[17] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 97.
[18] Crouch, „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, 24 ff.
[19] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 127.
[20] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 168.
[21] Vgl.: Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 170.
[22] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 387.
[23] Hayek, „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“, 100 ff.
[24] Vgl.: Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 133.
[25] Vgl.: Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 269 ff.
[26] Crouch, „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, 35 ff.
[27] Honneth, „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“ in: Menke/Rebentisch, „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“ ,68.
[28] Vgl.: Honneth, „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“, 69.
[29] Vgl.: Schulze, „Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart“.
[30] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 110.
[31] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 125.
[32] Bridges, „Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet“, 138.
[33] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 239.
[34] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 245.
[35] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 58.
[36] Botlanski/Chiapello, „Der neue Geist des Kapitalismus“.
[37] Foucault, „Die Geburt der Biopolitik“, 211.
[38] Ehrenberg, „Das erschöpfte Selbst“, 19.
[39] Der Rate der Depressiven stieg in Frankreich nach Angaben von CREDES zwischen Anfang der 1980er Jahre bis Anfang der 1990er Jahre um 50 Prozent. Vgl.: Ehrenberg, „Das erschöpfte Selbst“, 241.
[40] Ehrenberg, „Das erschöpfte Selbst“, 20.
[41] Ehrenberg, „Das erschöpfte Selbst“, 170.
[42] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 290.
[44] Han, „Psychopolitik“, 10.
[45] Han, „Psychopolitik“, 26.
[46] Han, „Psychopolitik“, 72.
[47] Bröckling, „Das unternehmerische Selbst“, 126.
[48] Hayek, „Recht, Gesetz und Freiheit“, 382.