Dass es keine Sammelklagen in Europa gibt, ist in erster Linie das Ergebnis eines zähen Ringens, das die Industrielobby bisher für sich entscheiden konnte. Verspricht der Entwurf einer neuen Musterfeststellungsklage Geschädigten eine bessere Durchsetzung ihrer Ansprüche?
Großes hatte sich die deutsche Bundesregierung vorgenommen:[1] Man wollte, wohl angestoßen vom VW-Abgasskandal, endlich der epochalen Erkenntnis gerecht werden, dass unrechtmäßige Verhaltensweisen bei standardisierten Massengeschäften häufig eine Vielzahl gleichartig geschädigter Kunden hinterlassen. Denen bieten nämlich traditionelle Instrumente der Rechtsverfolgung bisher keine geeignete Abhilfe.
Der neue Entwurf zu einer Musterfeststellungsklage (MFK) soll das ändern. Er sieht die Möglichkeit für geschädigte Verbraucher vor, im Falle von Massenschäden ihre Ansprüche künftig in einem gerichtlichen Verfahren prüfen zu lassen, ohne dabei einer Kostenbelastung ausgesetzt zu sein. Doch damit, meint die Juraprofessorin Astrid Stadler, würde nur „ein Placebo-Gesetz“ geschaffen.
Stadler hat damit wohl ebenso Recht wie mit ihrem „Verdacht, dass man eigentlich gar kein effektives Klageinstrument will.“ Auch andere Kommentare im Netz stoßen in dasselbe Horn. Zustimmung kommt hingegen von Wirtschaftskanzleien.
Fragen wir also – unterteilt in acht Schritten – nach, ob der Regierungsentwurf zu halten vermag, was er verspricht, nämlich:
- kostenfreie Anmeldung von Ansprüchen;
- einfacher Weg der kollektiven Rechtsverfolgung;
- kein Prozesskostenrisiko für den einzelnen Betroffenen;
- geeignet, das „rationale Desinteresse“ zu überwinden;
- effektive Rechtsdurchsetzung;
- Rechtssicherheit für Unternehmen;
- Entlastung der Justiz;
- und das alles, ohne berechtigten Interessen der Wirtschaft zuwiderzulaufen.
Frage 1: was ist überhaupt eine Feststellungsklage?
Wenn Sie an eine Klage denken, schwebt Ihnen sehr wahrscheinlich eine Leistungsklage vor: Will man jemanden zur Vornahme einer bestimmten Handlung – meistens: einer Geldzahlung – verpflichten, dann macht man das mittels Leistungsklage. Man begehrt also vom Gericht, den Beklagten nach Klärung von Tat- und Rechtsfrage sogleich zu einer bestimmten (Geld-)Leistung zu verurteilen, und so lautet – falls man gewinnt – dann auch der Urteilsspruch. Zahlt der Verurteilte daraufhin immer noch nicht, folgt die Exekution.
Anders bei der Feststellungsklage: Sie dient „nur“ der Klärung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. Einen bestimmten Anspruch auf (Geld-)Leistung erhält man mit ihr noch nicht, und man kann ihr Urteil auch nicht in Exekution ziehen. Das macht das Feststellungsverfahren zwar schlanker, weil hier noch nicht geklärt werden muss, ob der (Zahlungs-)Anspruch in jedem Einzelfall besteht, und falls ja, in welcher Höhe; aber es amputiert die Rechtsverfolgung des Geschädigten sozusagen, weil es auf halbem Wege (der Geldeintreibung) stehen bleibt: Anschließend an die – bindenden – Ergebnisse des Feststellungsverfahrens müsste erst wieder die Leistungsklage erfolgen, was die Sache natürlich keinesfalls verbilligt.
Schränkt man das Kollektive an der Rechtsverfolgung also von vornherein ein auf so ein Feststellungsverfahren, hilft man den massenhaft Geschädigten etwas, aber nicht zur Gänze. Die Verbraucher können zwar in einem ersten Schritt Ansprüche kostenlos anmelden, doch um tatsächlich ans Ziel zu gelangen, also ihren Schaden ersetzt zu bekommen, sind noch weitere Maßnahmen auf dem Weg der individuellen Rechtsverfolgung nötig, die selbstredend mit Kosten verbunden sind.
Frage 2: wieso nur für Verbraucher?
Mit der Musterfeststellungsklage könnten sich zum Beispiel, wenn der Entwurf wie geplant am 1. November Gesetz wird, hunderttausende deutsche Autobesitzer noch rasch über die Verjährung zum Jahresende 2018[2] retten und verbindlich klären lassen, ob VW wegen manipulierter Schadstoffwerte bei Diesel-Fahrzeugen haftbar wird. Denn die Anmeldung bewirkt, dass die Verjährung von Ansprüchen durch die Erhebung der MFK gehemmt wird. Verglichen mit Einzelverfahren lohnt sich so ein gebündeltes Vorgehen durchaus, muss doch die Tatfrage („Hat VW manipuliert?“) und die Rechtsfrage („Durften sie das?“) insgesamt nur einmal geklärt, der immense Aufwand hierfür nur einmal getragen werden.
Aber sind denn nur Verbraucher Kunden von VW-Fahrzeugen geworden, nicht auch Firmen, kleine Selbstständige und ganze Flotten, z.B. auch die der öffentlichen Hand? Sind vom LKW-Kartell nicht sogar hauptsächlich Nicht-Verbraucher betroffen, weil Verbraucher eher selten einen 40-Tonner ordern?
Damit nicht genug der Denkfehler: Eine solche Musterfeststellungsklage einreichen dürfen nur bestimmte Verbraucherschutzverbände, die seit mindestens vier Jahren auf einer Liste stehen und zumindest 350 Mitglieder haben,[3] sowie einige europäische Verbraucherschutzverbände. Die DUH, die den Abgasskandal aufgedeckt hatte, ist beispielsweise nicht darunter. Der Staat teilt also in manichäischer Tradition die Welt willkürlich in Gut und Böse ein und ernennt selbstherrlich denjenigen, der allein gegen die Mächte der Finsternis rittern soll. Diese Einteilung hat sich schon bisher nicht bewährt, zumal die Welt meist deutlich komplexer ist, und sie ist protektionistisch, weil sie die freien Marktkräfte absichtlich beschneidet.
Mit dieser Einschränkung auf bestimmte Verbände will die Regierung die angebliche Missbrauchsgefahr eindämmen. Nun stellen Sie sich vor, die Regierung Ihres Landes würde plötzlich beschließen, die Pressefreiheit und mit ihr den freien Journalismus abzuschaffen mit der Begründung, damit würde doch nur „in den Redaktionsstuben mit Sensationsgeschichten Geld gescheffelt“; die „betroffenen Leser“ hätten nichts davon, oder jedenfalls nicht viel, deshalb mache sich ab jetzt die Regierung zum Fürsprecher der Bürger und entscheide selbst, welche Nachrichten noch verbreitet werden dürfen; freien, regierungsunabhängigen Medienunternehmen werde es ab jetzt untersagt, „Geschäfte zu machen“, stattdessen werde eine staatlich kontrollierte und mit Steuergeld ausgestattete Behörde künftig allein darauf schauen, dass „Bürger die richtigen und für sie wichtigen Nachrichten bekommen“. In China immer schon Realität, in manchen Ländern Europas auf dem Weg, aber hier eigentlich undenkbar. Denn die Wahlbevölkerung würde dieses Argumentationsmuster beim Thema Medienunternehmen sofort durchschauen. Aber beim Thema MFK will man es uns als Schutzmaßnahme verkaufen.
Wieso eigentlich sollen Anwälte nicht an Sammelklagen verdienen, so wie Chirurgen an ihren Patienten, oder Bäcker an ihren Brötchen? Wieso nicht sollen Versicherungen, Finanzierungsgesellschaften und sogar Hedgefonds daran verdienen, und so erst Anreiz haben, sich überhaupt zu engagieren, wenn es Schäden in Milliardenhöhe zu ersetzen gilt? Wollen wir sie lieber unersetzt lassen? Sollen sich nicht nur Verstöße, sondern sogar Verbrechen lohnen? Ob der Anspruch tatsächlich besteht, entscheidet am Ende ohnehin ein Gericht, nicht der Hedgefonds; der auch nichts (in Ziffern: € 0,00) verdient, sondern im Gegenteil noch teuer draufzahlt, falls er sich bei seiner due diligence des Falles geirrt und ihn erfolgsträchtiger eingeschätzt hat, als er letztlich ist. Wenn der Unterlegene am Ende die ganzen Kosten zahlen muss, ist Erpressung mittels Klagsführung unmöglich. Die Einschränkung auf bestimmte Verbraucherschutzverbände ist daher nicht gerechtfertigt.
Darüber hinaus bleibt unklar, wer diese Verbände finanziert. Die Anmeldung von Ansprüchen ist zwar für die einzelnen Verbraucher kostenfrei, und die Teilnahme birgt selbst im Unterliegensfall kein Prozesskostenrisiko für die Teilnehmer (sie selbst klagen ja nicht, sondern der Verband). Das verschiebt das Problem aber nur. Wer finanziert etwa das meist erforderliche Sachverständigengutachten im Voraus, das denknotwendig der gesamten Gruppe, ja sogar Extranei, die sich gar nicht angeschlossen haben, zugutekommt und in der Praxis schon einmal mehr als € 1 Mio. kosten kann?[4]
Rechtsverfolgung ist manchmal ein beträchtlicher Aufwand, der viel Geld kostet und sich nicht einfach wegadministrieren lässt. Von wenig Sachverstand zeugt auch die künstliche Deckelung des Streitwerts mit lächerlichen € 250.000 – ein Wert, der schon beim „Anlassfall“ VW mit hunderttausenden Fahrzeugen schnell übertroffen wird: Kein Anwalt, der bei Trost ist (und seine Anwaltshaftung in vielfacher Höhe bedenkt), wird so einen Fall nach Tarif übernehmen wollen; will er aber sein Honorar frei vereinbaren, stellt sich wieder die Frage: mit wem; wer zahlt?
Es bleibt somit festzustellen, dass die MFK zwar in einigen Fällen die kollektive Rechtsverfolgung erleichtern könnte, und der einzelne Geschädigte durch die Teilnahme tatsächlich kein Prozesskostenrisiko trüge. Unberücksichtigte Folgeprobleme, die auf unsinnigen Einschränkungen der Klagslegitimation beruhen, beeinträchtigen jedoch die Effektivität insgesamt schwer.
Frage 3: Massengeschäfte ja, Massenklagen nein?
Man könnte auch so weit gehen und Massengeschäfte im Hinblick auf deren Gefährlichkeit ebenso beschränken wie pharmazeutische Produkte, oder sogar gänzlich untersagen wie bestimmte Waffen und Drogen: Denn massenhafte Produktion bringt denknotwendig auch massenhafte Schäden mit sich, falls – um einmal das hässliche Wort „schwerer gewerbsmäßiger Betrug“ zu vermeiden – ein Produktionsfehler auftritt. Das hat sich etwa bei den toxischen Bankprodukten gezeigt, die zur Finanzkrise 2008 geführt haben.
So weit geht man natürlich nicht und muss es auch nicht. Die entwickelte Konsumgesellschaft lebt mehr als jede frühere Daseinsform gerade von massenhafter Herstellung und massenhaftem Vertrieb. Man muss aber die Immunstrategien ernstnehmen, die sich über die Jahrhunderte gegen arglistige Rosstäuscher ebenso entwickelt haben wie gegen „nur“ schlampige, allzu billige Fertigungsweise: Gewährleistung, Schadenersatz, Irrtumsanfechtung – all das und noch mehr (z.B. im Kapitalmarktrecht) kann, falls einmal ein „Produkt“ nicht den berechtigten Erwartungen entspricht, über ausgeklügelte, längst ausjudizierte Kanäle geltend gemacht werden. Nur eben nicht von allen.
Gewiss könnte der Einzelne seine Rechte einfordern, aber man muss gar nicht die verspäteten Erkenntnisse der Behavioral Finance[5] über Rationale Apathie bemühen, um zu sehen, dass massenhafte Produktion die Herstellerseite gegenüber der Verbraucherseite kostenmäßig begünstigt.
Nun sind Kostenvorteile massenhaften Vorgehens, egal auf welcher Seite, das Wesensmerkmal der entwickelten Konsumgesellschaft, weil erst sie Produkte ermöglichen, die andernfalls unbezahlbar wären und nie das Licht der Welt erblicken würden. Dennoch sind die Nachfrager im Nachteil, da sie nicht über massenhafte Klagen ihre Kosten der immergleichen Beschwerden im Zaum halten können, sondern jedes Mal aufs Neue klagen sollen.
In globaler Sicht entwickelt sich – ohne echte Sammelklagsinstrumentarien – eine immer größere Schicht von Kunden (bestehend aus Verbrauchern wie Unternehmern gleichermaßen), die ihre Rechte, z.B. gegenüber großen Datenraffinerien[6] wie Google, Facebook oder Amazon, einfach nicht mehr geltend machen können, weil sie mit ungleichen Waffen gegen diese neuen Riesen kämpfen müssen. Das verstümmelt unsere elaborierten Gesetze, die durchaus wirksame Abhilfe vorsehen würden, zusehends. Verstümmelte Gesetze – also Gesetze, die keine wirksame Sanktionen gegen ihren Verstoß vorsehen – nennt man leges imperfectae. Wem das nichts sagt, der stelle sich einen Schiedsrichter vor, der von allen Spielern ignoriert wird, weil ihm die Exekutivgewalt fehlt.
Wir haben gesehen, dass die MFK einerseits nur – wie der Name schon sagt – ein Feststellungsurteil produziert, andererseits nur von Verbrauchern über bestimmte Verbände geltend gemacht werden kann. Durch diese Einschränkungen bleiben enorme Rechtsschutzlücken bestehen; das Problem des „rationalen Desinteresses“ – berechtigte Ansprüche werden aufgrund eines unverhältnismäßigen Prozessrisikos nicht geltend gemacht – bleibt in vielen Fällen ungelöst.
Frage 4: Erlangen wenigstens Unternehmen durch die MFK Rechtssicherheit?
Hygienemaßnahmen als solche sind wahrscheinlich älter, als wir Aufzeichnungen darüber besitzen, aber mit jedem neuen Zivilisationsschritt mussten sie neuerlich adaptiert und verfeinert werden. Nachdem die Pest große Teile der mittelalterlichen Bevölkerung dahingerafft hatte, erkannte man langsam, dass die Straßen der Städte besser nicht mehr als Fäkaliengruben benutzt und das Abwasser in Kanälen abgeleitet werden sollte, etc. Schadenersatzklagen sind und waren immer schon zivilrechtliche Hygienemaßnahmen des Wirtschaftslebens insofern, als sie vom Hersteller/Anbieter antizipiert werden (müssen) und ihn von vornherein davon abhalten, schadensträchtiges Verhalten überhaupt zu setzen.
Sammelklagen sind die Hygienemaßnahmen der entwickelten Konsumgesellschaft, aber sie müssen erst noch in der Praxis entwickelt werden. Sogar in den USA sind sie kaum älter als 50 Jahre, und auch dort hatten sie einen schweren Start.[7] Sich in Europa jetzt schon Gedanken über das „erhebliche Schutzinteresse der Sammelkläger“ zu machen[8] wäre in etwa so, als hätte man noch vor Erfindung und Erprobung der ersten Passagierflugzeuge eine komplette Liste aller heute gültigen Sicherheitsvorkehrungen zu erstellen versucht.
Wohlgemerkt, Hygiene bezweckt immer das Wohlergehen und Überleben der Gesamtgesellschaft, nicht nur einzelner Gruppen. Auch die Hersteller brauchen Rechtssicherheit, und jahrelange Rückstellungen in ihren Büchern für eventuelle Ersatzleistungen sind ein Übel, nicht nur für Shareholder. Rechtssicherheit leistet die MFK aber nicht, auch wenn sie vorsieht, dass ein angemeldeter Verbraucher gegen den Beklagten, während die MFK anhängig ist, (in derselben Sache) keine weitere Klage erheben kann.[9]
Individuelle Klagen betroffener Verbraucher bleiben nämlich nach wie vor möglich. Zwar tritt für alle, die sich nicht anschließen, nach drei Jahren Verjährung ein, sodass mit deren Ersatzforderungen danach nicht mehr gerechnet zu werden braucht (opt-in). Aber der Anschluss an die MFK ist denkbar niederschwellig, sodass kein Grund besteht, einem Verbraucherverband nicht einfach seine Teilnahme zu erklären, und an das Musterfeststellungsurteil dann noch die Leistungsklage anzuschließen, die im Übrigen von jedem Teilnehmer in beliebiger Höhe erhoben werden kann. Dazu kommt noch, dass eben diese drei Jahre von Beklagtenseite unbedingt abgewartet werden müssen, denn verspricht sie vorher etwas, oder versteht sie sich zu einem Vergleich, um die Sache aus der Welt zu schaffen, dann lädt sie damit natürlich all diejenigen zur Anspruchstellung geradezu ein, die bisher nichts gefordert haben, aber ebenso betroffen sind – was einem CEO schon mal den Untreuevorwurf einbringen könnte.
Mit Bedacht gehen die USA daher den pragmatischeren Weg des opt-out: Wer immer dort eine Sammelklage auf den Weg bringt, vertritt damit automatisch die gesamte betroffene Gruppe solange, bis ein Einzelner sagt: Hier steige ich jetzt aus, ich will nicht mitumfasst sein, ich gehe jetzt meinen eigenen Weg und klage selbst ein. Auf diese Weise konnte VW, wenn schon keine billige, so doch eine rasche Lösung in den USA erreichen. Aber in seltener Einmütigkeit will Europa beim Thema Sammelklage einmal keine „amerikanischen Verhältnisse“. Der Verdacht liegt nahe, dass Viele dabei nicht wissen, wovon sie reden, sondern nur kopfschüttelnd an Pudel in der Mikrowelle oder neidisch an steinreiche Anwälte denken.
Frage 5: Was sind „amerikanische Verhältnisse“?
Kodek weist wiederholt darauf hin, dass die Idee der Sammelklage schließlich aus den USA stammt und nicht etwa aus der DDR; er betont allerdings die ganz anderen prozessualen und materiellen Rahmenbedingungen: In Kontinentaleuropa würden, anstelle einer Jury, qualifizierte Berufsrichter entscheiden; „die Höhe von Schadenersatzbeträgen ist stets sehr maßvoll; Anwälte dürfen nicht auf Basis eines prozentuellen Erfolgshonorars arbeiten und der Kläger muss, wenn er den Prozess verliert, dem Beklagten die Kosten des Verfahrens ersetzen. Dies führt dazu, dass – anders als in den USA – zur Erhebung reiner ‚Erpressungsklagen‘ in Österreich kein Anreiz besteht“, ebenso wenig wie in Deutschland. Man kann nicht immer argumentieren, der Markt regle alles selber, aber genau dort, wo die eklatantesten Marktstörungen eintreten, plötzlich paternalistisch den Staat – oder doch staatlich legitimierte Verbände, und nur diese – zum allein Klagebefugten machen, das ist ein Widerspruch in sich.
Als die Zivilprozessordnungen Ende des 19. Jahrhunderts Gesetz wurden, hat man einfach nicht an Massenschäden gedacht, weil man sich noch in der Produktionsökonomie und noch nicht in der Konsumökonomie befunden hat.[10] Sehr vereinzelt freilich, nämlich im Anlegerrecht, gab es schon damals Konstellationen, „in welchen es sich ergibt, daß die Rechte [der] Besitzer wegen des Mangels einer gemeinsamen Vertretung gefährdet“ sind. Und prompt wurde für solche Fälle auch ein Gesetz (mit etwas sperrigem Namen[11]) geschaffen, weil man erkannte, dass zur Sicherung der gefährdeten Rechte Vieler die Bestellung eines gemeinsamen „Curators“ erforderlich ist.
Wenn es also heute keine geeigneten Instrumentarien für Sammelklagen in Europa gibt, so ist das keineswegs legistische Blindheit oder gar Unvermögen, sondern das Ergebnis eines zähen Ringens, das die Industrielobby bisher für sich entscheiden konnte, weil sich die Kunden mit billigen Horrorgeschichten über drohenden „Missbrauch“ füttern lassen und ihre politische Vertretung nicht immer ihre politische Vertretung ist.
Frage 6: Werden Gerichte durch die Bündelung der Vielzahl von Einzelverfahren entlastet?
Zu einer Art lex imperfecta würde es auch führen, wenn die Gesetze zwar Konsequenzen anordnen, jedoch deshalb nicht mehr durchgesetzt werden können, weil es an Richtern fehlt. Stillstand der (Zivil-)Rechtspflege – auch das wird gerne übersehen – ist nicht bloß ein herkömmliches Staatsversagen wie etwa überbordende oder langsame Bürokratie in Verwaltungsdingen. Sondern darüber hinaus auch eine implizite Aufforderung an die Mehrzahl der Lauteren, es der Minderzahl der absichtlichen Schädiger, der Nachlässigen und derjenigen, die z.B. fremde Leistung ausbeuten, gleichzutun, weil deren Tun ohnehin sanktionslos bleibt und die Shareholder Ergebnisse fordern. Das Chaos, das dann eintritt, kennen wir aus dem vorweihnachtlichen Straßenverkehr: dass bald gar nichts mehr geht, wenn alle gleichzeitig in die Kreuzung einfahren. Deswegen fordert das Lauterkeits-(Wettbewerbs-)Recht faire Verhältnisse am Markt und bestraft unlautere Mitbewerber inzwischen empfindlich.
Daher sollen nicht nur, sondern müssen Zivilgerichte handlungsfähig bleiben und dürfen nicht überlastet werden, etwa indem es über Jahre hinweg zur Verstopfung durch tausende von Einzelklagen kommt, was in Österreich schon vorgekommen ist. Die MFK erreicht das durchaus – aber nur vorerst. Denn mit ihrem Urteil bekommt noch kein einziger Teilnehmer Geld. Das muss er sich erst im anschließenden Leistungsverfahren erstreiten, wohlgemerkt: jeder einzeln. Verglichen mit der jetzigen „Regelung“, wo es gar kein Sammelinstrument gibt, führt also die MFK absehbar, wenngleich erst in der nächsten oder übernächsten Legislaturperiode, zu einer Verstopfung der Gerichte – es sei denn, die Betroffenen verlieren inzwischen die Lust am Prozessieren (dann hätte das Gesetz seinen Zweck verfehlt), oder die Beklagten lassen sich zu einem Vergleich herbei.
Das ist übrigens gar nicht so unwahrscheinlich; kein einziger Massenschaden in Österreich, wo Sammelklagen in gewisser Weise möglich sind, wurde bislang durch Urteil, sondern schließlich immer durch Vergleich entschieden. Aber wenn man in Wirklichkeit Vergleiche anstrebt und keine Urteile, warum schafft man dann nicht gleich ein Gesetz über kollektive Vergleiche wie in den Niederlanden?
Wohl deswegen, weil Vergleiche nur freiwillig geschlossen werden können, es also eine Möglichkeit geben muss, diese Freiwilligkeit zu befördern: klassischerweise mit der Drohung, im Falle einer Verurteilung noch viel mehr zahlen zu müssen. Verurteilungen zur Geldzahlung sollte ein echtes Sammelklagsinstrument also schon vorsehen, sonst läuft die Drohung ins Leere und jeder Schädiger ist gut beraten, sich nicht zu vergleichen. Gegen nichts, was den Geschädigten zu Ersatz verhilft und die Schädiger diszipliniert, ist Grundsätzliches einzuwenden. Aber der Rechtsstaat und in ihm der Zivilprozess zielt gerade nicht auf einen Vergleich (beiderseitiges Nachgeben)! Mit anderen Worten muss eine prozessuale Durchsetzungsmöglichkeit bestehen bleiben, sonst wird Gnade zu Recht.
Frage 7: Was sind die berechtigten Interessen der Wirtschaft?
Stadlers harscher Befund von eingangs, man wolle gar keine Sammelklagsmöglichkeit schaffen, trifft leider zu. So verlieren allerdings beide Seiten. Denkfehler #1 war, nur Verbraucher als Geschädigte anzusehen. Denkfehler #2 ist, Klagen als Übel anzusehen, weil das nur zutrifft, wenn man erstens selber beklagt und zweitens zurecht beklagt ist, aber nicht, wenn man auf der anderen Seite oder sozusagen „daneben“ steht: als rechtstreuer Mitbewerber, der Interesse daran haben muss, dass sich diese Rechtstreue auch lohnt; gleichbedeutend damit, dass Rechtsbrecher belangt und zur Rechenschaft gezogen werden.
Denkfehler #3 schließlich ist zu glauben, unter europäischen Voraussetzungen würden Sammelklagen alles anders machen und Lawinen von Ersatzleistungen heraufbeschwören, die „die Wirtschaft“ nicht stemmen könnte: In Israel beispielsweise, einem Land mit nur 8 Mio. Einwohnern, aber 1.400 Sammelklagen jährlich (gegenüber 319 Millionen US-Amerikanern bei „nur“ 12.500 Sammelklagen jährlich), führt dieses Instrument keineswegs zu bedrohlichen Szenarien; die Ergebnisse sind vielmehr bescheiden, mit im Schnitt weniger als 1 Millionen Dollar direkter Kompensation und noch weniger in Form von Gutscheinen o.ä..[12]
Unter den „berechtigten Interessen der Wirtschaft“ können niemals Partikularinteressen von Rechtsbrechern verstanden werden, mögen sie auch noch so große Player am Markt sein. In größerer Perspektive muss auch die Wirtschaft Interesse daran haben, dass erhobene Ersatzansprüche rasch und kostengünstig (‚the loser pays it all!‘) verhandelt und solche Sachverhalte, die sich nicht oder nur mit unwirtschaftlichen Mitteln völlig aufklären lassen, mit pragmatischem Vergleich erledigt werden, der alle potentiellen Anspruchsteller einschließt, damit die Sache abgeschlossen werden kann.
Frage 8: wenn nicht die MFK, was dann?
Die Europäische Kommission hat am 11. April 2018 vollmundig angekündigt, mittels „New Deal“ Verbraucher künftig mit den Instrumenten auszustatten, die sie benötigen, um ihre Rechte durchzusetzen und Entschädigung zu erhalten. Während nämlich der Binnenmarkt schon lange keine Grenzen mehr kennt, bestehen zwischen den Mitgliedsstaaten immer noch erhebliche Unterschiede im gerichtlichen Rechtsschutz. Und kaum ein Mitgliedsstaat kennt bisher Rechtsbehelfe, die es den betroffenen Personen erlauben würden, ihre Ansprüche gemeinsam gerichtlich einzuklagen.[13]
Aber obwohl der New Deal bei Verbraucherorganisationen positiv aufgenommen wird, kneift auch er vor einer echten Sammelklage. So bleibt er wieder auf Verbraucher beschränkt, folgt dem opt-in-Modell und sieht (insb. in Art 10) nur die Feststellung des Verstoßes vor, sodass anschließend erst wieder die Einzelnen, um zu ihrem Geldersatz zu kommen, Klage führen müssen. Damit bleibt er etwa auf dem Niveau der MFK stehen, und das will er auch: „Dieses Modell […] unterscheidet sich deutlich von den Sammelklagen nach US-amerikanischem Vorbild. Verbandsklagen können nicht von Anwaltskanzleien angestrengt werden, sondern nur von Einrichtungen wie Verbraucherorganisationen, die keinen Erwerbszweck verfolgen und strenge Zulassungskriterien erfüllen, die von einer Behörde überwacht werden.“[14]
Etwa von irgendeiner Behörde, keinem (unabhängigen) Gericht? Die Idee, bereits die einleitenden Verträge zwischen Geschädigten, Verbraucherorganisation und Prozesskostenfinanzierer gerichtlich kontrollieren zu lassen, wurde einmal zutreffend als „das Ende dieser Klageform“ bezeichnet.[15] Solche Verbraucherorganisationen werden sich zudem kaum finden, fehlen ihnen doch wegen der gezielten Ausschaltung der Marktmechanismen ausreichende finanzielle Mittel, um die vorgestellten Klagen zu führen. Ein schöner Erfolg für das Lobbying der Wirtschaft, vorläufig, denn es handelt sich noch um einen Entwurf.
Was wir im 21. Jahrhundert brauchen sind echte Sammelklageinstrumente, die jedem einzelnen Geschädigten zur Verfügung stehen, nicht nur Verbrauchern unter der Voraussetzung, dass sich ein finanzkräftiger Verband findet, der von Staates Gnaden einschreitet, dazu neben seinen übrigen Aktivitäten noch die Lust, die Zeit und die Kapazität hat und per definitionem außerhalb des marktwirtschaftlichen Erwerbsbogens steht. Jede interventionistische Maßnahme, die von diesem einfachen Minimalziel abrückt, hält uns gegenüber den USA im Status eines Entwicklungslandes fest und bremst die Marktkräfte. Europa kann die USA dabei gar nicht kopieren, denn dafür unterscheiden sich die Rechtskreise zu sehr.
Zusammenfassend beantworten wir also die Eingangsfrage, ob die Musterfeststellungsklage als Schritt in die richtige Richtung gesehen werden kann, zweideutig. Wohlmeinend könnte die Antwort bejahend ausfallen, wenn der Schritt nicht fälschlich für die Zielerreichung gehalten wird. Die Richtung stimmt insofern, als die Institutionalisierung von kollektiven Rechtsverfolgungsinstrumenten in der entwickelten Konsumgesellschaft mit massenhafter Produktion auf lange Sicht unumgänglich ist.
Es steht allerdings zu befürchten, dass die MFK mit ihren vielfältigen Einschränkungen eher zusätzliche Blockaden errichtet und sich daher als Klotz am Bein erweist. Es ist, als wäre man gleich wieder falsch abgebogen. Aufgrund ideologisch befeuerter Ängste fehlt in Europa bisher der Wille, eine echte Sammelklage auf den Weg zu bringen. Nur für eine solche aber könnte die Antwort unzweideutig positiv sein.
Quelle: makroskop.eu, Benedikt Wallner und Matthias Funk, 30.05.2018
[1] Zur Genese des Gesetzwerdungsprozesses, auch mit weiterführenden Hinweisen, vgl. instruktiv http://www.zpoblog.de/regierungsentwurf-musterfeststellungsklage-bindungswirkung-vergleich-klagebefugnis-verbandsklage/, wo von einem „Sammelklagenverhinderungsgesetz“ die Rede ist.
[2] In Deutschland; in Österreich gelten abweichende Verjährungsregeln.
[3] Noch dazu darf laut Entwurf, S. 24, „die gerichtliche Geltendmachung von Verbraucherinteressen“ – also genau diese Klagstätigkeit – „in der gelebten Praxis der Einrichtung nur eine untergeordnete Rolle spielen.“ Man will also Profis ausschalten.
[4] Wie im ALPINE-Großverfahren am Handelsgericht Wien; in völliger Praxisferne schätzt der Entwurf demgegenüber die gesamten Kosten, die den klagenden Verbraucherschutzverbänden entstehen (unter der nicht unrealistischen Annahme, dass die Verbände in der Hälfte der geschätzten 450 jährlichen Fälle unterliegen), auf nur € 920.408 jährlich (siehe S. 3 im Entwurf [Fn 2]!).
[5] Eine sorgfältige deutschsprachige Einführung in die hauptsächlich englischsprachige Literatur findet sich in der Dissertation von Lars Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance (2006).
[6] Wie Andreas Weigend, Data for the People (2017), sie nennt.
[7] Alon Klement, Robert Klonoff: Class Actions in the United States and Israel, http://www7.tau.ac.il/ojs/index.php/til/article/view/1544.
[8] Z.B. Paul Oberhammer, Kollektiver Rechtsschutz bei Anlegerklagen, in: Anlegeransprüche – kapitalmarktrechtliche und prozessuale Fragen, Gutachten II, Wien 2015.
[10] Wie Zygmunt Bauman in Anlehnung an Habermas sagt, u.a. hier: https://www.sinn-und-form.de/?tabelle=leseprobe&titel_id=4394.
[11] „Gesetz vom 24. April 1874, betreffend die gemeinsame Vertretung der Rechte der Besitzer von auf Inhaber lautenden oder durch Indossament übertragbaren Theilschuldverschreibungen und die bücherliche Behandlung der für solche Theilschuldverschreibungen eingeräumten Hypothekarrechte“, https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10001683.
[12] http://www7.tau.ac.il/ojs/index.php/til/article/view/1544, III.B. Class Action Outcomes.
[13] http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX:52018DC0040.
[14] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-3041_de.htm.