Es ist nicht alles gut, was aus den USA kommt. Aber manches schon. In den USA haben VW-Käufer wegen des Abgasskandals rasch und unbürokratisch jeweils US$ 5.000,00 oder mehr an Schadenersatz erhalten (hier). In Europa zeigt VW bislang keine Vergleichsbereitschaft und setzt darauf, dass die betroffenen Fahrzeuge nach der Umrüstung dem technischen Stand entsprechen würden.

Neben unterschiedlichen Abgasvorschriften in Europa und den USA scheint der Grund für diese „Zurückhaltung“ des VW-Konzerns einfach in dem in Europa fehlenden Druckmittel zu liegen: In den USA sieht sich ein Konzern bei Nichteinigung schnell mit massiven Sammelklagen konfrontiert, in Europa spekuliert er vielleicht darauf, dass nicht allzu viele Kläger Ansprüche erheben werden. Zwar darf man als Konzern auch in Europa seine Kunden nicht belügen; aber es bleibt weitgehend folgenlos, wenn man es doch tut, werden doch nur die wenigsten Kunden Klage erheben. Entscheidend sind also – wie so oft – die Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung. So gesehen sollten wir uns hier als prozessrechtliche Entwicklungsländer begreifen, deren Prozessordnungen noch aus einer Zeit lange vor der industriellen Massenproduktion/-dienstleistung stammen, die nämlich zwangsläufig zu ebenso massenhaften Ersatzansprüchen führt, falls einmal etwas schief läuft.

Was in Europa lediglich gefordert wird, ist in den USA gelebte Realität: die zivilrechtliche Sammel- oder Gruppenklage („class action“) zur kollektiven Rechtsdurchsetzung. Mit diesem einfachen Instrument wird eine ganze Gruppe von Geschädigten zusammengefasst, die sich auf gleiche Rechts- und Tatsachenfragen stützen, wobei in den USA der Einzelne nicht vollständig seine individuelle Betroffenheit, sondern lediglich seine Zugehörigkeit zur Gruppe („class“) nachweisen muss. Die Rechts- und Tatsachenfragen werden für alle Gruppenmitglieder bindend geklärt; selbst mangelnde Kenntnis des Einzelnen von der Anhängigkeit eines Prozesses schadet nicht (hier). Auf diese Weise ist es geschädigten Verbrauchern möglich, auch relativ geringfügige Rechtsansprüche durchzusetzen, deren Geltendmachung sonst, auf individuellem Klageweg, z.B. aufgrund des Prozesskostenrisikos oder aufgrund des sonstigen Aufwands oftmals nicht machbar wäre. Beispielsweise kostet alleine das Sachverständigengutachten in einem unserer aktuellen Anlegerverfahren weit mehr als € 1 Million – völlig untragbar für einen Einzelkläger, selbst mit Rechtsschutzversicherung!

Das antiquierte österreichische Prozessrecht kennt lediglich eine subjektive (Mehrzahl an Streitgenossen: § 11 ZPO) und objektive (Mehrzahl an Ansprüchen: § 55 JN; § 227 ZPO) Klagehäufung, sowie das Institut der Verbandsklage, bei der in Bereichen des Verbraucherschutzes (§ 29 KSchG) oder des Wettbewerbsrechts (§ 14 UWG) einige bevorrechtete Verbände zur Prozessführung ermächtigt werden; sie führt eher ein Schattendasein. Erforderlich bleibt in all diesen Fällen zudem der Nachweis des individuell und kausal zugefügten Schadens. In Deutschland sieht es nicht viel besser aus. [1] Wir müssen uns immer noch mit einer prozessrechtlichen Krücke behelfen, der sogenannten Sammelklage österreichischer Prägung (sieh dazu aktuelles Beispiel hier). Dabei treten die Betroffenen ihre Rechte an einen Kläger ab und der klagt sie dann gesammelt ein (vgl. aktuell in Deutschland zum Thema VW z.B. hier). Hier kommt es natürlich, weil das Institut dafür nicht geschaffen wurde, immer wieder zu Detailproblemen, was tendenziell den Schädigern nützt. Das wäre nicht der Fall, würde der Gesetzgeber endlich Ernst machen mit der Schaffung einer Gruppenklage.

Der schon 2007 äußerst kontrovers erarbeitete Gesetzesentwurf für ein Gruppenverfahren – also eine echte Sammelklage, nicht nur für Teilbereiche – wurde bedauerlicherweise noch immer nicht Gesetz. [2] Aus Gründen der Prozessökonomie und der effizienten Rechtsverfolgung wäre dies zwar wünschenswert (gewesen), zumal auch die Gerichte unter Überlastung stöhnen, wenn tausende Kläger in derselben Sache ihre Ansprüche individuell einklagen, immer dieselben Zeugen immer dasselbe erneut aussagen müssen, etc. So haben zwar sämtliche Regierungsübereinkommen seither auf politischer Ebene die rasche Umsetzung dieses Gesetzesentwurfs enthalten. Gescheitert ist die Umsetzung bisher aber vor allem am Widerstand der Wirtschaft und ihrer Lobbyorganisationen, die in völliger Verkennung der Vorteile von Gruppenklagen, auch für ihre eigenen Mitglieder, einen Beharrungsstandpunkt einnehmen.

Auf europäischer Ebene sind Bestrebungen zur Verbesserung kollektiven Rechtsschutzes zwar erkennbar (siehe hier) von einer Institutionalisierung ist man jedoch noch weit entfernt. Denn den mitgliedsstaatlichen Privatrechtsordnungen „liegt überwiegend das Leitbild des liberalen Individualismus zugrunde, aufgrund dessen jeder einzelne Kläger seine individuelle Betroffenheit, einen individuellen Schaden und die Kausalität zwischen beidem darlegen und nachweisen muss“ (hier). Gruppenbetroffenheit erscheint ihnen hingegen fremd. Gründe, dies zu ändern, wären schon gegeben: Denn kollektive Rechtsschutzverfahren „erleichtern die Geltendmachung von Ansprüchen vor allem in Fällen, in denen der individuelle Schaden so gering ist, dass der mit einer Individualklage verbundene Aufwand unverhältnismäßig erscheint. Sie stärken zudem die Verhandlungsposition potenzieller Kläger und tragen zu einer effizienten Rechtspflege bei, da sie eine Vielzahl von Einzelverfahren wegen derselben Rechtsverletzung überflüssig machen“ (hier, S. 4).

Wenngleich es bereits in einigen Mitgliedsstaaten Instrumente kollektiven Rechtsschutzes gibt (Gruppenverfahren, welche die Vorteile der amerikanischen „class action“ inkorporieren wollen, finden sich bspw. in Schweden, den Niederlanden oder Italien [3]), so wäre angesichts der hohen wirtschaftlichen Integration doch eine EU-weite Verankerung, insbesondere im Wettbewerbs- und Verbraucherschutzrecht, erstrebenswert.

Wie wichtig ein reibungsloses Aufarbeiten von kollektiver Kundenunzufriedenheit binnen schicklicher Zeit für einen funktionierenden Binnenmarkt wäre, haben die Europäer noch nicht begriffen. Stattdessen herrscht Wildwuchs bei einflussreichen Interessenvertretungen auf Unternehmerseite: Über vielfältige Methoden wirken Lobbyisten auf EU-Institutionen ein, wobei ein klares Übergewicht zugunsten der Industrie besteht (hier). Das gesamte operational budget der BEUC – der „umbrella group in Brussels to defend the interests of all Europe’s consumers“ (hier) – beträgt nur € 3.196.000 (siehe hier), das ist um fast ein Viertel weniger als die geschätzten Kosten einer einzigen Wirtschaftsinstitution [4] für direkte Lobbyarbeit bei den EU-Organen für das Geschäftsjahr 2013 mit € 4.000.000 (hier)! Und derlei Institutionen gibt es im Transparenzregister der EU tausende [5] (viele mit geringerem, manche auch mit erheblich mehr Budget), [6] Verbraucherorganisationen hingegen nur eine. Wiederum zeigt sich ein bedeutender Unterschied zur Situation in den USA, wo in der langjährigen Tradition des Lobbyings eine breite Reihe an Regelungen entwickelt wurde – insbesondere durch den „Lobbying Disclosure Act“, der Lobby-Gruppen zur umfassenden Offenlegung von Zielsetzungen und Geldzuflüssen verpflichtet (hier).

Die Bürgerinnen und Bürger von Europa lassen es also zu, dass wenig transparente, informelle Einflussnahme auf ihre politischen Entscheidungsträger die Märkte regelt, während sie einem – in Individualverfahren seit mehr als einem Jahrhundert erprobten und bewährten – kybernetischen System, bestehende Missstände rückzumelden und abzustellen, einfach durch die latente Drohung, in einem förmlichen Gerichtsverfahren zu unterliegen, und so die Marktfähigkeit insgesamt zu verbessern, ablehnend gegenüberstehen dort, wo es darauf ankommt: bei kollektiver Rechtsdurchsetzung; denn forensische Erfahrung lehrt, dass die Drohung mit Gerichtsverfahren einen international agierenden Konzern kaum jemals beeindruckt, es sei denn, sie erfolgte massenhaft. Europäer sind, so muss man schließen, weder mit demokratischem Denken, noch mit der Funktionsweise des Marktes so (lange) vertraut wie US-Amerikaner, sie vertrauen weiterhin auf paternalistische Einrichtungen, anstatt ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.

Gegner verfahrensrechtlicher Reformen zum kollektiven Rechtsschutz verweisen gern auf die Gefahr eines „Klagemissbrauchs“ oder etwaige negative Einflüsse auf die Wirtschaftstätigkeit von EU-Unternehmen (hier, S.8). Kann man also Klagen auch missbrauchen? Gewiss, jedes Recht kann immer auch  missbraucht werden. Doch ist die Fragestellung hier komplizierter, ist es doch das unabhängige Gericht, das letztlich Rechte zuspricht – oder eben nicht, falls die Klage unbegründet wäre. Aber, so geht ein weiteres Argument, schon die Klagsführung sei, mit Blick auf amerikanische Verhältnisse, eine extreme Belastung für die beklagten corporations, selbst wenn am Ende nichts herauskommen sollte.  Doch sind die Rechtsordnungen (Kontinental-) Europas und der USA derart unterschiedlich, dass eine direkte Übernahme oder einfache Kopie amerikanischer class actions ohnehin nicht in Betracht kommt, vielmehr deren Ziele und Funktionsweisen konstruktiv an europäische Gegebenheiten angepasst werden müssten. Niemand wird in Europa aussichtslose Klagen finanzieren, wenn die am Ende unterliegende Partei die gesamten Kosten ersetzen muss. „Die europäische ‚loser pays‘-Regel macht das Prozessrisiko zu einem wirksamen Filter gegen willkürlich erhobene Klagen“. [7] Und die im Vorschlag von der EU-Kommission vorgesehene Opt-in-Lösung würde zudem – im Unterschied zu der in den USA geltenden Opt-out-Regel – dafür sorgen, dass eine klare Begrenzung der subjektiven Rechtskraft gewährleistet würde, da sich Kläger eben aktiv dem Verfahren anschließen – hinein optieren – müssten, um Nutznießer eines stattgebenden Urteils sein zu können. Zuletzt ist auch nicht argumentierbar, dass Unternehmen – auch wenn diese Arbeitsplätze „schaffen“ – etwa schützenswerter sein sollen als Konsumenten!

Doch geht es gar nicht nur um Endverbraucher oder Konsumenten: Wie gerade derzeit das LKW-Kartell mit seiner Rekordstrafe von € 3 Milliarden zeigt [8] – dies angesichts einer „Beute“ der Kartellanten von kolportierten € 100 Milliarden (z.B. hier) – sind sämtliche Akteure des Wirtschaftslebens von kollektivem Rechtsbruch betroffen und auch geschädigt. Frächter kaufen LKWs zu überhöhten Preisen, die sie an Spediteure weitergeben (müssen), [9] die für Großhandelsbetriebe fahren, die wiederum Einzelhändler beliefern und so fort in der wirtschaftlichen Nahrungskette bis hin zu den Endkunden. Dort spricht man dann etwas despektierlich nur mehr von „Streuschäden“, die natürlich niemand mehr geltend macht! Anlässlich der von der Union verordneten, [10] mit hochgesteckten Zielen vollgepackten [11] Neufassung des Kartellrechts zum Jahresende 2016 hätten es die Mitgliedsstaaten nun ausdrücklich in der Hand gehabt, Vehikel für kollektive Rechtsdurchsetzung zu schaffen – was allerdings nicht geschehen ist; wieder eine versäumte Gelegenheit. Klagen werden fälschlich als Übel, nicht als Beitrag zur Markthygiene aufgefasst. Das ist auch aus Sicht der rechtstreuen Mitbewerber eine Anleitung zum Rechtsbruch, ihre Lektion muss lauten: Das nächste Mal bin ich auch nicht mehr rechtstreu!

Ein Legitimationsnachweis für die Nicht-Reformierung ist also nicht auszumachen. Denn wenn gemäß Art 47 EU-Grundrechtecharta iVm Art 19 Abs 1 EUV jede Person Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz hat, ist zu fragen, was wirksamer Rechtsschutz bei massenhaftem Auftreten von Marktstörungen bedeutet. Lassen sich die Schutzlücken nicht mit bereits bestehenden Mitteln schließen, kann die Notwendigkeit der Etablierung von Normen kollektiver Rechtsdurchsetzung leicht abgeleitet werden. Dieser Notwendigkeit wird in Europa derzeit nicht entsprochen.

Von Benedikt Wallner und Isabella Jorthan, Makroskop, 06.01.2017 


Literaturhinweise / Anmerkungen

[1] wenngleich dort, mit dem KapMuG, für enge Teilbereiche schon ein richtiger, aber noch etwas zäher Weg eingeschlagen worden ist.

[2] Rechberger/Simotta8, Zivilprozessrecht, Rz 337.

[3] Koch, Europäischer kollektiver Rechtsschutz vs. amerikanische ‚class action‘: Die gebändigte Sammelklage in Europa? in: WUW 11/2013, 1059 – 1070: S. 1064 f.,

[4] BUSINESSEUROPE – „the leading advocate for growth and competitiveness at European level, standing up for companies across the continent and campaigning on the issues that most influence their performance“, vgl. http://www.businesseurope.eu/content/default.asp?PageID=582

[5] Am 15.08.2014 waren 6774 Organisationen registriert. http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/statistics.do?locale=de&action=prepareView.

[6] Z.B. AFME – “the voice of Europe’s wholesale financial markets”, vgl. http://www.afme.eu/About/Mission.aspx, mit geschätzten Kosten der direkten Lobbyarbeit bei den EU-Organen für das Geschäftsjahr 2013 von >= € 10.000.000, vgl. http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/displaylobbyist.do?id=65110063986-76.

[7] Koch, Europäischer kollektiver Rechtsschutz vs. amerikanische ‚class action‘: Die gebändigte Sammelklage in Europa? in: WUW 11/2013, 1059 – 1070: S. 1070

[8] Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 19. Juli 2016: Kommission verhängt Geldbuße in Höhe von 2.93 Mrd. EUR gegen Lkw-Hersteller.

[9] sog. passing-on-defence.

[10] Die Richtlinie 2014/104/EU vom 26. 11. 2014 war bis 27. 12. 2016 in innerstaatliches Recht umzusetzen.

[11] Vgl. schon das WEISSBUCH der Kommission vom 2.4.2008: Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EG-Wettbewerbsrechts, sowie deren PRAKTISCHEN LEITFADEN, http://ec.europa.eu/competition/antitrust/actionsdamages/quantification_guide_de.pdf.