von Ricardo Peyerl
Wien hat das „Match“ verloren. Der Sieger heißt Bad Goisern. Obwohl es 196 zu 169 für Wien stand. 196 Tage im Jahr verbringt die Bürgerin Sabine H. mit ihrem Job in Wien, 169 Tage lebt sie im oberösterreichischen Bad Goisern.
Dort wohnen auch mehrere Amseln, die ihr sehr zugetan sind und sich von den Äpfeln auf den Bäumen in ihrem Garten ernähren. Um den kümmert sie sich ebenso wie um ihre Beziehungen zur Familie, Eltern und Geschwistern sowie zu den Freunden, die in der Salzkammergut-Gemeinde leben.
Unter anderem damit hat Sabine H. beziehungsweise ihr Wiener Rechtsanwalt Benedikt Wallner begründet, weshalb Bad Goisern ihr Lebensmittelpunkt ist. Wohnsitze hat die 30-Jährige zwei, nämlich Wien und ihren Geburtsort. Aber dem Luftkurort gehört ihr Herz.
Dem Wiener Bürgermeister war das ganz und gar nicht recht. Jeder Bürger, der seinen Hauptwohnsitz in der Bundeshauptstadt hat, schlägt sich mit 1450 Euro pro Jahr aus dem Finanzausgleich nieder, während die eines Hauptwohnsitzes beraubte Gemeinde an die 7000 Euro verliert.
Seit der Volkszählung 2001 streiten die Bürgermeister landauf landab um Tausende Bürger. Man nennt das Reklamationsverfahren. Diese kosten den Staat Millionen Euro, aber nur rund jedes 33. Verfahren ist von Erfolg gekrönt. Trotzdem wird ziemlich unbeirrt weiterreklamiert.
Es geht stets um den „Mittelpunkt der Lebensbeziehungen“. Dafür sind Aufenthaltsdauer, Lage des Arbeitsplatzes, Wohnsitz der Familienangehörigen sowie das gesellschaftliche Umfeld von Bedeutung.
NAHEVERHÄLTNIS Es gibt zahlreiche Fälle, in denen zwei „Mittelpunkte der Lebensbeziehungen“ vorhanden sind. Dann kommt es bei der Entscheidung über den Hauptwohnsitz auf das „überwiegende Naheverhältnis“ des Betroffenen an.
Sabine H. nannte bei der Volkszählung Bad Goisern als Hauptwohnsitz und Wien als weiteren Wohnsitz. Sie hat keinen Mann, keine Kinder, ihr Arbeitsort ist Wien und für Bad Goisern trug sie ein: Liegenschaftsbesitz mit Landesförderung.
Jemand kritzelte später darunter: Kein Kriterium.
Sabine H. wundert sich sehr, wie viele Augen in wie vielen Ämtern die angeblich so vertraulichen Daten sehen, bearbeiten, kommentieren. Jedenfalls unterzog man sie nach der Volkszählung einem Reklamationsverfahren. Der Wiener Bürgermeister hatte es begehrt, weil ihm die 169 Tage in Bad Goisern unrealistisch erschienen.
Der Bürgermeister von Bad Goisern teilte mit, dass Sabine H. seit ihrer Geburt dort lebt, Freizeit und Urlaub verbringt, kulturelle Angebote nutzt und lediglich ihren Beruf in Wien ausübt.
Das Innenministerium wies den Wiener Antrag auf Aufhebung des Hauptwohnsitzes Bad Goisern ab. Denn laut Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zählt in den Fällen, in denen die Schwerpunkte der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen auf mehrere Wohnsitze verteilt sind, das „überwiegende Naheverhältnis“. Dieses ist ein subjektives Kriterium und kann daher „nur in der persönlichen Einstellung des Betroffenen zum Ausdruck kommen“.
Laut Höchstgericht „hat der Gesetzgeber“ - wenn die objektiven Kriterien erfüllt sind - „dem Meldepflichtigen grundsätzlich die Entscheidung zu überlassen, wo er seinen Hauptwohnsitz erklärt“.
Im speziellen Fall eben unter Apfelbäumen, auf denen Amseln sitzen.
In den Formularen für die Volkszählung waren der Hauptwohnsitz und weitere Wohnsitze einzutragen, ganz geheim sind die Daten keineswegs.
Anwalt Benedikt Wallner
Quelle: KURIER 15.10.2002 | Seite 9